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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1932)
DOI Artikel:
Messner, Johannes: Bilanz des ökonomischen Liberalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0549

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Hintergrund gegenwärkig halten. Der ökonomische Individualismus ist ja nicht
eine ijolierte Erscheinnng der kulturellen Enkwicklung, sondern selbst nur eine
Auswirkung einer tieser wurzelnden geistjgen Gesamchaltung, die alle Kultur-
gebiete in gleicher Weise dnrchsormt hat, deren Fraglichkeit allerdings im Wirt-
schaftlichen am unmittelbarsten fühlbar wurde in dem, was als „soziale Frage"
immer von nenem das gesellschastliche und knlturelle Leben bedroht. Freilich,
als zuerst die soziale Frage sich in das Blickseld der Gesellschast zu drängen be-
gann, glaubte man sich ziemlich leicht damit abfinden zu können als mit einer vor-
übergehenden Erscheinung, die die Entwicklung selbst korrigieren werde. Wurde
sie doch znerst mit der „Ärbeitersrage" identisiziert nnd somit nur als Wunde
an einer Stelle des sozialen Körgers angesehen, die durch die Eigenkrast dieses
Körpers wohl geheilt würde. Die soziale Frage wurde aber nicht still, wuchs
vielmehr immer rascher und immer drohender an, und bald mußte die soziale
Diagnose seststellen, daß das, was man an der Llrbeitersrage nur als lokale
Erkranknng ansah, das Symptom einer schweren Erkrankung des ganzen
Organismns war, so daß bloße Symptombehandlung nicht nur ergebnislos
bleiben mnßte, sondern geradezu die Krankheit weiter zu verschärfen drohte,
dann nämlich, wenn sie vom gleichen Geiste getragen blieb, aus dem die Krank-
heit selbst entsprang. Der Individualismus als geistiger Untergrund nnserer
gesamten Knltur ist nun allerdings nichts Einheitliches, daher seine strenge be-
grisfliche Fassung kaum möglich. Wollte man cine solche versuchen, so könnte
man nur sagen: der Individualismus ist die ltberbetonung der Geltung der Ein-
zelpersönlichkeit, die in die Forderung der Freiheit von überpersönlichen Bin-
dungen mündet. Nnn läßt allerdings schon diese Umschreibung des Indivi-
dualisnms erkennen, daß er einen wahren Sachverhalt übertreibt. Tat-
sächlich ist die Anerkennung des Eigenwertes der Persönlichkeit eine Errungen-
schast der Kultur, nicht zuleHt eine Frucht des Christentums. Man erinnere sich
nnr daran, wie völlig nach der antiken Staatsaufsassung die Einzelpersönlich-
keit im Staate auszugehen hatte, und erinnere sich, mit welchem Heroismus das
junge Christentum das Recht nnd die Pflicht der Einzelperson, die ihr von Gott
verliehene Individnalität in freier Selbstbestimmung zu verwicklichen, gegen-
über dem römischen Imperinm verfochten hat. Das Gemeinschastsbewußtsein
und die Gemeinschastsbindungen in der damaligen Kirche zeigen allerdings auch,
wie wesenhaft man den Bestand nnd die Vollendung der Individualität an
die Gemeinschaft gebnnden sah. Persönlichkeits- und Gemeinschaftsidee fanden
so ihren harmonischen Ansgleich. Die kulturelle Entwicklung bedingke aller-
dings immer neue Formen dieses Ausgleichs, mußte der an immer neuen
Aufgaben sich ausweitenden Individualität Raum geben. 2ln sich war also
eine bewegte kultnrelle, wirtschaftliche und soziale Dynamik unansweichlich.
Ein Erwachen des Krastbewußtseins und der Eigenwilligkeit der Einzelper-
sönlichkeit zn verhindern, konnte gar nicht im Sinne christlicher Gesellschasts-
und Kulturausfassung liegen, es war eine natürliche Folge des Fortschreitens
nnd Heranreifens der Völker und zugleich VorausseHung des kulturellen Fort-
schrittes. Für das Abendland fällt dieser Oorgang in die Zeit vom dreizehnten
bis zum sechzehnken Iahrhundert, wo, ausgehend von Italien, der Zug nach
sreier persönlicher Entsaltung und Lebensgestaltung der Neihe nach alle Län-
der erfaßte und sich aus allen Lebensgebieten, den künstlerischen, wissenschastlichen,

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