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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI Artikel:
Le Fort, Gertrud von: Die Letzte am Schafott, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0060

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gar nicht, daß sie eine eigenmächtige Änderung des Textes vornahm. Anders
die Priorin: im ersten Augenblick lag es ihr aus der Zunge, Blanche zu
korrigieren, aber dieselbe eigentümliche Rnhrung, die sie vorhin gesühlt
hatte, hielt sie davon ab. Ohne aus Blanches Gebet näher zurückzukommen,
ging sie geradewegs auf ihr Ziel los.

„Mein Kind", sagte sie, „ich setze voraus, daß Sie wissen, weshalb ich Sie
rusen ließ."

Blanche schwieg.

Madame Lidoine hatte dieses Schweigen nicht erwartet. „Zch habe", so
fuhr sie fort, „Ihre Demut stets sehr hoch gestellt, und ich vertraue darauf,
daß sie mir diese schwere Stunde erleichtern wird, denn wahrlich, diese
Trennung ist für die Mutter nicht weniger schmerzlich als für das Kind."
Sie umarmte Blanche.

Diese schwieg noch immer.

Madame Lidoine empsand einige Verlegenheit. „Oder haben Sie das Gefühl,
daß ich Ihnen Unrecht tue?" fragte sie ein wenig unbeholfen.

Blanche schwieg.

Plötzlich sagte die Priorin mit ungewöhnlicher Hast: „Ich befehle Ihnen,
zu sprechen, Schwester Blanche! Tue ich Ihnen Unrecht oder nicht, wenn
ich Sie in die Welt zurücksende?"

Blanche kniete vor ihr nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
,>Sie befehlen mir, zu sprechen, meine Mutter", sagte sie leise: „Ia denn,
Sie tun mir Iknrecht!"

„So irrt also Ihre Nvvizenmeisterin — Sie haben Hoffnung, Ihre —
Schwäche doch noch zu überwinden?"

„N!ein, meine Mutter." Es lag etwas ganz Hosfnungsloses, aber zugleich
wieder etwas merkwürdig Getröstetes in ihrer Stimme.

Die Priorin fühlte plötzlich etwas wie das Zerbrechen aller ihrer Maßstäbe.
„Sehen Sie mir ins Gesicht!" besahl sie kurz. Blanche zog die Hände
von ihrem kleinen, gepreßten Antlitz: aller Ausdruck in ihm war gleich-
sam auf einen einzigen zusammengefchrumpft, aber merkwürdigerweise er-
schien es darinnen von einer erschreckenden Weite. Die Priorin erkannte
es kaum wieder. Bor ihrem geistigen Auge tauchte plötzlich eine Reihe
völlig zusammenhangloser Bilder auf: kleine fterbende Bögel — verwun-
dete Krieger auf dem Schlachtfeld — Berbrecher unter dem Galgen —.
Sie glaubte nicht mehr, Blanches Angst, sondern überhaupt jede Angst
zu erblicken.

„Mein Kind", sagke sie fassungslos, „Sie können doch unmöglich die Todes-
angst einer ganzen Welt —" sie brach ab.

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Dann sagte Madame Lidoine fast scheu:
„Sie glauben also, daß Ihre Furcht — reljgiös sei?"

Blanche seufzte tief auf. „O, meine Mutter", hauchte sie, denken Sie doch
an das Geheimnis meines N!amens!" —

Meine Liebe, ftatt jeder Erklärung dieser höchst seltsamen Llnterredung
lasse ich hier das Iournal Madame Lidoines sprechen. Sie sahen diese meist so
nüchternen Anfzeichnungen bereits einmal zu einer außerordentlichen reli-
giösen Kundgebung werden; an dieser Stelle erheben sie sich zu erhabener

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