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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI article:
Michel, Wilhelm: Das Geheimnis des Schlafs
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0063

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stes, der Bindung an die Welt zu entrinnen und sich in ichsüchtigem Schwär-
men und schließlich in einem kalten Tod zu verselbständrgen. Der Schlaf
holt ihn wieder heim. Er überströmt ihn mit mütterlicher Wärme, fügt
ihn in den Zusammenhang ein und stellt die Ordnung wieder her.

Schlaf ist Anschluß des Geistes an die unteren, vitalen Mächte. Schlaf ist
ein Vorgang der Verdichtung und Zusammenziehung, insofern er die Zuein-
anderordnung des geistigen und des vitalen Teils im Menschen jeden Tag
neu vornimmt und befestigt. Schlaf ist damit zugleich ein 2lkt der Ver-
söhnung, der Zustimmung, sa der Frömmigkeit. Die Selbstaufgabe, zu der
jeder Schlafende bereit sein mnß, kann nur erfolgen, wenn er dem Dunklen
und Großen, in dem er untertauchen soll, seine Zustimmung gibt. Zn einer
Welt, der wir gar nicht zustimmen könnten, wäre Schlafen uumöglich.
Schlafende sehen oft Kindern ähnljch, weil Schlafen bei jedem Menschen eine
erfüllte kindliche Situation ist. Daher auch die Verbindung von Schlaf und
Gebet. Nachtgebet heißt: ich stimme der Welt zu, ich überantworte mich ihr,
indem ich ihren Herrn ausdrücklich als die Liebes- und Vaterkraft anerkennc
— dann kann ich schlafen.

Zu diesen Zusammenhängen einige Beispiele aus der Literatur. Baudelaire
sagt: „Der Mensch, der abends betet, ist ein Kapitän, der Schildwachen
ausstellt. Er kann schlafen." Zn Menzels „Toboggan" erscheint das Sich-
Wehren gegen den Schlaf als gleichbedentend mit dem Sich-Wehren gegen
Gott. Chesterton schreibt: „Wissen Sie, was Schlaf ist? Wissen Sie, daß
derjenige, der schläft, an Gott glaubt? Schlas ist ein Sakrament, denn er ist
cin Glaubensakt und eine Ilkahrung zugleich."

Bei jungen Menschen gibt es manchmal ein sehr hartnäckiges Sich-Wehren
gegen den Schlaf. Man findet in solchen Fällen, daß der Geist, der im
jungen Menschen eben zu seinen ersteu, schroffen Selbstgefühlen erwacht ist,
sich gegen das Hinuntergehen ins Unbekannte sträubt: er will die gerade an-
getretene Herrschaft nicht aufgeben. Das ist Schlaflosigkeit aus metaphysi-
schen Gründen*. 2luf derselben Linie liegt die Schlafstörung durch Sorgen
oder schlechtes Gewissen. Sorgen, die man sich macht, sind von einem ge-
wissen Grade ab durchaus ein Mangel an Bertrauen, ein eifersüchtiges Haften
am Jch und seinen Hilfsquellen. Wer sich sorgt, will das Regiment des
Ganzen nicht hergeben — und ebenso hat, wer mit einer bösen Tat beladen
ist, sein Ich so hart gegen die Welt gestellt, daß er guteu Grund hat, sich
dieser selben Welt nun nicht als Schlafender wehrlos dahinzugeben.

I'n welche Bereiche der Schlaf führt, kann man sehen, wenn man die Ähn-
lichkeit des Schlafes mit der echten, tiefen Bersenkung in die Niatur
beobachtet. Wenn die Landschaft uns völlig in ihr Leben hereinzieht, so geht
wie beim Schlaf unser kleines Ich unter, damit die Verbrüderung mit
allen Geschöpfen stattfinden kann. Wir vergessen unseren tbkamen und alle
Bedingungen unseres bürgerlichen Daseins, um uns ganz in die große land-
schaftliche Weite hinaus oder auch in das kleine, nahe Dasein von Gräsern,
Blumen, Käfern hinüber zu lebeu — und die Rückkehr aus dieser Selbst-
aufgabe ist genau von denselben Gefühlen der Erfrischung, Verjüngung und

* Zu dem psychologischen Bilde dieser Art Schlaflosigkeit bringt Aufschlußreiches Leo GreinerS
Fragment „Ortwin und der Schlaf" (Münchner Almanach, Derlag R. Piper H Co., igoZ).
 
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