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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Das Geheimnis des Schlafs
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0064

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neuen Zusammenzrehung des GesamLmenschen begleitet wie das Auswachen
aus dem Schlaf. Es geht ohne Zweisel in die Natur, wenn es in den Schlaf
geht, und darauf scheint mir unter anderem ein Uuterschied zwischen Schlaf
und Tod, die man so gern zusammen neunt, zu beruhen. Schlaf führt hinunter
in immer dichtere, stosflichere Bereiche, in Dunkel und in den Ernst des un-
bedingten Zusammenhanges. 2lber Tod hebt heraus, er geht nach oben, in die
Helle, wie es etwa eine Ohnmacht andeutet, in der die Ikmwelt hell und
gläsern wird. Der Tod nimmt uns aus der I^atur heraus, der Schlaf
taucht uns in sie unter.

Ienes Bild vom „Anschluß", vom Eintreten oder Ausfließen des Geistes
in den großen Zusammenhang* ist natürlich nur ein Bild. Wie wäre unbild-
licher von dem Vorgang zu sprechen? Zwei Psychoanalytiker, Bernfeld und
Feitelberg, haben Untersuchungen über Schlaf und Wachen angestellt. Sie
haben gefunden, daß im Schlaf das Potential des Individunms bedeutend
ansteigt und daß es sich alsbald nach dem Auswachen zu verringern beginnt.
Sie stellen fest, daß an diesem Hin und Her von Machtzuwachs und Macht-
verlust das „System Person", also das Ich, das Bewußtsein, die Ratio,
der Geist, wesentlich beteiligt ist. Mit der Llusschaltung dieses Systems
Person beginnt das Potential zu steigen, mit der Wiedereinschaltung beginnt
es zu fallen. Die Funktion des Systems „Person" steht geradezu „im
Dienste der Entropie".

Für den Menschen wird hier also auch behauptet, daß es sich bei Schlaf
und Wachen um Schicksale des Geistes, um seine wechselude 2lus- und Ein-
schaltung handelt. Das Bild vom Riesen Antäus findet hier seine aus-
drückliche Bestätigung; denn Antäus, Riese und Sohn der Erde, iß ;eder
Mensch nach Ausschaltung des Ichs und des Bewußtseins, also des „Systems
Person". Dann berührt er die Erde, dann sammelt er Kraft. Man kann
das „Riesenhafte", das bei Ausschaltung des Geistes in unserem Körper wach
wird, manchmal sehr deutlich zu spüren bekommen. Kurz vor dem Einschlafen,
wenn das Wachbewußtsein schon zum größten Teil erloschen ist, beginnen
manchmal die Körperempfindungen, namentlich die Emyfindung vom Kopf,
von den Kiefern und den Lippen, aber auch von den Llrmen nnd Händen, ins
Riesenhafte zu wuchern. Eine ausgesprochene, fremdartige Mächtigkeit der
Körpergefühle tritt ein; es ist gleichsam, als benuHLen die Zellen oder
Nrrven dieser Körperabschnitte die augenblickliche Rbwesenheit des „Herrn",
des überwachenden Bewußtseins, um sich einmal aufzublasen und großzutun,
ihren partikulären Größenwahn auszuleben. Schon Lichtenberg hat bemerkt,
daß bei gedämpftem Bewußtsein, unter anderem gerade im Halbschlaf, un-
wesentliche örtliche Schmerzempfindungen das Streben zeigen, sich mächtig
auszubreiten und eine viel größere Geltung zu beanspruchen, als ihnen nach
dem Urteil des aufgeklärten Despoten, des Geistes, zukommt. Ieht, vorm
Einschlafen, da der Despot die Augen nicht mehr ganz offen hat, wagt sich
das provinzielle Geltungsbedürfnis hervor. Iene Ruswncherung der Kör-

* Es sei hier nur im Dorbeigehen an die zahlreichen Sagen erinnerk, die eine „Auswanderung"
des Geistes im Schlaf zum Gegenstand haben. Als Maus, als Schlange geht er aus dem
Mund heraus, um für eine Zeit in einem Berg oder in der Erde, alfo im Natur- und Tiefen-
bereich, zu verschwinden.
 
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