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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 12 (Septemberheft 1932)
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meine zitternden Kollegen, für deren tvei-
Leres Schicksal ich mich völlig verantrvort-
lich fühlte bei dem Gedanken, meine Stim-
me könne versagen.

Diese Erinnerungen wurden in mir toach,
da ich den „Vortrag über Theater" von
Heinrich Fischer las, der unter dem
Titel „Ungeschminkt" bei Jehoda u. Sie-
gel in Wien erfchienen ist. Die ganze Ra-
serei einer Berliner Premiere isk hier in
der einen Episode zusammengefaßt, die
Fischer selbst erlebte: tvie der Hauptdar-
steller, ein Riesenkerl, im letzten atem-
raubenden Augenblick, da der Vorhang
zur Premiere hochgehen soll, an das Guck-
loch stürzt, „Kerr! — Ihering!" ächzt,
„in einen Sessel fällt und sich von un-
menschlicher Aufregung geschüttelt, mit-
ten auf der Bühne erbricht". Die Ber-
liner Theaterkritik ist eine Art Börsenbe-
richt geworden, dem der Schauspieler aus-
geliefert ist. Sein Name, sein Brot hän-
gen von dem Kurswert ab, der durch die
hundert Zufälligkeiten einer Premiere zu-
stande kommt. DaS macht ihn in diesem
Augenblick zum ärmsten Teufel unter der
Sonne und schwächt seine Leistung.
Dabei soll nicht etwa die subjektive Ehr-
lichkeit der Kritiker bestritten werden, aber
sie selber sind oft, ohne sich vielleicht dar-
über wirklich klar zu sein, die Marionet-
ten hintergründiger Interessen. Kann ein
Kritiker wirklich objektiv sein, wenn er
ein Stück bespricht, dessen Verleger zu-
gleich sein eigener Brotherr ist? Es ant-
worte dieses Beispiel Fischers: die erste
Besprechung des „Veilchens von Mont-
martre" in Mosses Tageblatt wurde von
Carl Westermeyer schon nach dem zwei-
ten Akt geschrieben, da die Premiere sehr
lange dauerte und die Kritik noch inS
Morgenblatt sollte. Herr Westermeyer te-
stierte der Operette Welterfolg und sagte
ihr schlankweg voraus, daß sie ein Er-
eignis sein werde. Wieviele wissen, daß
der Creöcendo-Verlag, in dem jenes Veil-
chen blüht, der Firma Mosse gehört?

Was ich als Schauspieler von meinem,
das hat Fischer als Dramaturg und
Theaterpraktiker von seinem Blickpunkt
aus gesehen: daß der Kapitalismus der
gefährlichste Feind des TheaterS ist, daß
es an ihm zugrunde gehen muß. Wenn
hemmungslose Konkurrenz zwischen den
Schauspielern auf der einen, zwischen den
Theaterdirektoren auf der anderen Seite

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und zwischen beiden die brutalsten Intev-
essengegensätze herrschen, wie soll öa ein
Ensemble wachsen, wie eine tiefe abge-
wogene Schauspielerleistung entstehen?
Fischer bezweifelt nicht etwa, daß heute
noch zahlreiche und große Leistungen zu-
standekommen, aber er vermißt — mir
scheint, mit Recht — die ruhige Tiefe, die
letzte symbolische Menschlichkeit, die ein
Anschütz gewinnen konnte, „der sich in sei-
nen Tagebüchern durch Monate vor der
Aufführung über die Figur des König
Lear Rechenschaft gibt, mit der völlig si-
cheren Selbstversenkung und Konzentra-
tion auf daS Wort des Werkes". Heute
hetzt sich der Schauspieler ab zwischen
Theater- und Tonfilmatelier, wenn
er auf sich hält; der Direktor eines mitt-
leren Berliner Theaters war sich bis vor
kurzem noch für 60 ooo RM. im Jahre
Inserate schuldig, wenn er unter seinen
Konkurrenten bestehen wollte. Und alle,
alle zittern vor der Presse, die Inserate
braucht und Verlagsinteressen vertritt.
Aber mir ist, als schriebe ich an einem
Epilog, zumindest an dem Bericht einer
unheilbaren Krankheit, die sich ihrem
Ende nähert. Fischer hat seinen Vortrag
zu einer Zeit gehalten, als die Ereignisse
seine Meinung noch nicht auf die gründ-
lichste Art bestätigten. Jch nehme an, daß
ihm sein Glaube an das Zeittheater, den
er inmitten dieses Verfalles verkündet,
auch inzwischen problematisch erscheint.
Llbrigens fällt es ihm viel leichter zu sa-
gen, was Zeittheater nicht ist — das
meiste, was sich so nannte, lehnt er ab
— als was es wirklich ist: Karl Kraus
oder Offenbach oder „eine Synthese aus
revolutionären und traditionellen Wer-
ten".

Ich glaube, daß in fast allen Auseinan-
dersetzungen über das Theater eine Größe
nicht genügend beachtet wird, die zum
Theater, was die Vorbedingungen zur
Produktion anlangt, auf eine viel inten-
sivere Weise gehört als zu allen anderen
Künsten: die Gesellschaft, und zwar in
einem organischen, metaphysischen Sinne.
Die verschleierte Anarchie hinter der Ku-
lisse, wie ich sie schilderte, ist ja nur Spie-
gel und abgekürzte Chronik der völligen
Zerklüftung unserer gesellschaftlichen Zu-
stände. Ich behaupte, daß, wenigstens in
Berlin, kaum ein Dutzend Menschen im
normalen Publikum über die elementar-
sten Dinge des LebenS wirklich einer Mei-
nung sind. Es gibt also in Wahrheit kein
 
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