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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 12 (2. Märzheft 1894)
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Bie, Oscar: Über Pantomimen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0189
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hat sich nur sehr fragmentarisch entwickelt. Sie wnrzelt j
weniger in griechischen inimischen Darstellungen, als iin
röinischen nainiiig, welcher, wie gewisse Seiten der Komik,
cine Eigenart des Jtaliervolkes bildete. Noch später stand
die Pantomime in Italien und in Frankreich in hohem
Ansehen, da sie mehr der äußeren Lebhaftigkeit der ro-
manischen Nationen entsprach, als dem Naturell der Ger-
nianen, deren mimisches Material schon im gewöhnlichen
Verkehr ein geringeres ist. Wie nnn Alles im Süden schnell
in die Gesetze strengerer Form gespannt wird, so nahm
auch die Pantomime dort bald die gleichmäßigen Rythmen
einer sormalen Schaustellung an: sie ward zum Tanze,
zum großen Ballet. Jtalien und Frankreich entwickeln
wesentlich die Geschichte dieses darstellenden Ballets, welches
zwar von Zeit zu Zeit ebenso seine naturalistischen Re-
sormen durchmachte, wie die andereu Künste, aber dennoch
niemals aus dem formalen Rhythmus zur rein inhaltlichen
Charakteristik durchdrang. Die pantomimische Charakteristik
flüchtete sich gleichsam ins Marionetteutheater, dessen Be-
deutung langsam wuchs, sodaß es Typen bilden und ganze
Dramen, auch tieseren Hintergrundes, zur Aufführung
bringen konnte. Man lese Lemertier de Nenvilles vor
zwei Jahren erschienene lllmtoire cle8 irruriorietwZ nnd man
wird ein bescheideneres, aber nicht unwichtiges Stück
Literaturgeschichte kennen lernen. Währeud die Pantomime
im Süden als Ballet und Tanz fortwucherte, scheint sie
in England zuerst neue charakterisirende Keime augesetzt zu
habeu. Die englische Komik ist eine Mischung von Schau-
spielkunst und clownhafter Akrobatik. Hier entstehen kurze
Pantomimen, die nicht mehr bloß getanzt, sondern wirklich
gespielt werden — Spukgeschichten, Prügeleien, alles nur
komisch gehalten, aber ofsenbar in Anlehnung an die be-
kanuten Typen der Hanswurstbühne. Jn den pariser
Vorstadttheatern machen sich diese Pantomimen allmählich
beliebt, sie herrscheu dort seit geraumer Zeit — während
sie bei uns niemals so recht populär werden kouuten.
Aus ihnen haben sich die großen, tragischen Pantomimen
entwickelt, wie sich die vor-gluckische Oper aus deu Jahr-
marktssingspielen entwickelte. Als vor einigen Jahren tout
?ai'i8 zu den Loutte3 cku I^lorcl hinauspilgerte, um sich
den sensationellen ^euu uiu^eux anzusehen, ward diese
Pantomime sanktionirt und wieder zur Kunstgattung empor-
gehoben. Seitdem betrachtet man iu Paris das „Mimo-
drama" wie die Entdeckung einer neuen Kunst. Man
vergaß dabei, wie viel traditiouelle Elemente diese angeblich
neue Kunst dennoch enthielt. Sie verleugnete noch nicht
ihre Ahnen. Sie war zunächst von vorstädtischer Gemein-
heit. Sie durchsetzte sich feruer mit allerlei formalen
Elementen, die mannoch sch wer eutbehren zu können meinte.
Die Breite des Kankautanzes im ersten wie des Walzers
im dritten Akte gehören dazu; vor Allem aber versuchte
die begleitende Musik uur an wenigen Stellen aus dem
Tanzrhythmus herauszukommen und lebendig und individuell

^-

! zn charakterisiren. Wann hat man gehört, daß solche
ernste Dinge in den Rhythmcn der Polka mazurka und
des Galopps ihr musikalisches Spiegelbild fiuden? Nnd
endlich war noch eine Unzahl typischer Geberden übrig ge-
blieben, welche die neue Pautomime ohne Überlegnng aus
dem Jnventar der alten übernommen hatte. Liebe, Hunger,
Verzweiflnng immer und ewig durch dieselben Radbewegnngen
der Hand in schablonenhafter Eile auszudrücken — wie
stimmt das mit den aus Charakteristik, d. h. aus die
Einz e l ausarbeitung gerichteten Bestrebungen dieser natura-
listisch ausgesrischten Kunst?

Aber neben den Überresten pantomimischer Typik sproß
das neue Leben schon deutlich und fruchtbar empor. Am
Anfang des zweiteu Aktes sitzt das gefangene Mädchen
mit dem scheu ausblickenden Buckelhans allein im schmutzigen
Zimmer. Sie dreht ihm zuerst weinend den Rücken. Er
sühlt ungeahnte Regungen des Mitleids. Er nimmt ihr
die Arbeit des Tellerreinigens ab. Langsam wendet sie sich
zu ihm um und gewinnt ein gewisses Jnteresse. Er fühlt
sich gehoben und reibt die Teller mit sast begeisterter
Sorgsalt ab. Sie lächelt. Da nimmt er einen Teller
in die Hand, der an allen Ecken beschlagen und beschunden
ist. Er versinkt in Erinnerung. Er erzählt ihr von der
Ursache dieser Zerstörung, und langsam, zum ersten Mal
in rechter Ruhe, — er sährt mit dem Finger den Brüchen
nach -— durchwärmt ihn ein überraschendes Glücksgesühl,
eine dunkle, künstlerische Freude an deu kapriziösen Formen
der Brüche. Und wie er so träumt, hat er nun ihr Ver--
trauen ganz gewonnen. Jch meine, so etwas läßt sich that-
sächlich tiefer herausbringen, wenn man es pantomimisch,
als wenn man es sprachlich ausdrückt. Gerade durch den
Mangel der Worte kommt das Gefühl inniger zum Aus-
druck — die Worte würden fast stören. Dieses leise
Hinüberspielen der intimsten Herzensregungen will unhör-
bar sich vollziehen.' Das sind die Gipselpunkte der
charakteristischen Pantomime, und solcher Stellen wies der
„Buckelhaus" mehr als eine anf. Dann fühlte man, daß
es nur eine Kunst gebe, welche derlei Empsindungen sür
das Ohr in ihrer ganzen Tiefe übermitteln könne: die
Musik. Die Pantomimen-Musik muß so edel und so
charakteristisch werden, daß durch ihre Hilse diese Kunst-
gattuug endlich aus den bierdunstigen Spezialitätentheatern
aus die anständige Bühue umziehen kann. Hier liegt ja
eine der reizvollsten Aufgaben der Ausdrucksmusik vorge-
zeichnet. Da die Vereinzelung in Worte fehlt, kann sie
sich in der ganzen intensiven Breite ihrer Natur ausgeben.
Sie kann das Kühnste an intimer Charakteristik wagen,
was sich denken läßt; denn die gespielte Handlung übersetzt
es auch dem unmusikalischen Zuhörer in die gangbare
Sprache. Sie muß diese Handlung bis ins Allereinzelste,
in sede Herzenssalte, in jede Eriunerung, jede Jdeenver-
knüpfung begleiten, wie ja nnr sie es kann. Sie muß
das in seiner ganzen Tiefe aussprecheu, was die Spielenden

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