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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 12 (2. Märzheft 1894)
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Bie, Oscar: Über Pantomimen
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0190

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in Worten nur stammeln würden. Und diese müssen ihren
Anweisungen bis in jeden Taktteil sorgsam folgen. Das ist
ein großes Ziel, wie es keine moderne Pantomimenmusik
nur annnahernd versucht hat — und vielleicht vermag
gerade diese Musik manchem noch Ungläubigen die Fähig-
keiten der modernen d ar stel l e n d en Tonkunst am ehesten
nahe zu bringen. Dann dürften auch die kleinen Über-
grifse hinfällig werden, welche die Pantomime sich jetzt ins
Reich des Hörbaren noch erlaubt. Da die Musik in
Polkas und Walzern tanzt und ohne jeden Gcist sich ent-
wickelt, erlauben sich die Spielenden, aus dem Reiche der
Lautmimik die elemeutarsten Jnterjektionen herüber zn
nehmen. Die Kankan-Korona lacht laut auf über die
Blamage des gehäuselten Buckelhans, das Mädchen schreit

markerschütternd, als sie der Dolchstoß trisft. Vor der
Hand ist die Wirkung dieser einzigen Naturlaute nicht zu
verkennen. Sie dringen tief ins Herz, wenn sie empor-
schießen aus der ewigen dumpfen Stille, in der sich da
wie hinter einer dicken, dem Ohre undurchdringlichen Glas-
wand die erschütternde Tragödie abspieltO
_ Oskar,16 ic.

* Bie macht uns noch auf eine Zeitungsnachricht über eine
Pariser Pantonnme ausmerksam, die den von ihm angedeuteten
Zielen näher zu kommen scheint: „Die Pariser Opera Comique
führte soebeu zum ersten Male eine dramatische Pantomime
»Fides« auf, deren Handlung zur Zeit der ueronischen Christen-
verfolgungeu spielt. Die von Georges Streel komponirte
stimmungsvolle Musik sand lebhaften Beifall. Einer der Text-
dichter, Rossi, gab die Hauptpartie in der neuen »Mimotragödie«.
Das Werk behandelt die Bekehrung eines rohen rvmischen
Gesangeneuwärters und Peinigers durch Fides, die glaubens-
sroh ihres Opsertodes harrende junge Christin."

Ikundscliau.

Dicbtung.

» Scböne Ltleratnr. 33.

Die Hflicht gegen sich selbst. Roman von F. vou
Zobeltitz. (Berlin, Bong L Co., 2 Bände.)

Wir werden aufs Land geführt, in die preußische Tief-
ebene, nach „Alt-Döbbernitz", dessen Herrenhaus im Mittel-
punkt der Geschichte steht. Baron Wising, der Schloßherr und
der Hauptheld der Erzählung, deren Hauptheldin seine treffliche
Frau ist, Baron Wising ist ein wenig mehr vom Hauche der
Neuzeit berührt, als er's eigentlich sein sollte und auch als er
selber es merkt. Er wird Landrat und wird Abgeordneter
und beginnt von den strammen Konservativen mehr und mehr
zu den sreien hinüberzurutschen, er gründet ein Bergwerk aus
seinem Boden und macht dieses Bergwerk später zu einem
Unternehmen auf Aktien, er verliert mehr und mehr seinen
sesten Halt iu der Landwirtschaft („Adel heißt Grundbesitz",
sagt auch der Verfasser) und verlegt ihn mehr und mehr auf
„moderne" Dinge und vom Gute in die Stadt und von der
Familie ins politische Tagesleben. Aber als die Not am
höchsten, ist die Hilfe am nächsten, denn seine Gattin rettet
den guten schwachen Baron, seine Gattin, die mit ihrem vor-
urteilslosen Blick für das Heute und ihrem stolzen Gefühl für
den Adel, der vor allem verpflichtet, das Jdeal einer rechten
Edelfrau ist. Eine ganze Anzahl anderer Leute noch treten
aus und treten ab, um uns eine ziemlich umfangreiche Hand-
lung vorzuführen und dabei die „Pfticht gegen sich selbst" zu
veranschaulichen. Ein junger Chemiker aus verarmtem balti-
schen Adel, der Geld erheiraten will, um seine landwirtschaft-
liche Wissenschaft auf eigenem Boden zu verwerten, die stolz-
schöne Tochter eines reichen Bauern, die sich an ihn verliert
und die er heiratet — ein Stoff, den der Versasser bekanntlich
mit einigen Umwandlungen zu seinem Schauspiel „Ohne Ge-
läut" verarbeitet hat. Ein alter, ehrlicher aber verschrullter
Schulmeister und sein Sohn, der studirt, ohne dazu das Zeug
zu haben, aus Haß und Neid Sozialdemokrat, Agitator und
schließlich gar Mörder wird, worauf er im Wahnsinn endet.
Als sozialdemokratisches Gegenstück dazu: ein braver Maschinen-
meister, der die „Agitation aus dem Lande" weit glücklicher
ansaßt, als jener. Dann eine problematische Natur, nämlich ein
hochbegabter Offizier, — der ist uns schon mehrmals srüher
vorgestellt worden. Eine unglaublich hochmütige und schöne
Comtesse, die in ihrer Nähe keine Bürgerlichen anders denn
als Domestiken vertragen kann, aber plötzlich, ganz plötzlich,

einen bürgerlichen Arzt heiratet. Ein alter Prachtmensch von
polterndem Grasen, den wir auch schon irgendwoher kennen.
Die zugehörigen Damen sonst noch. Nein, wir können die
Leute wirklich nicht alle auszählen.

Es sind unter denen, die der Versasser mit Vorliebe
ausgestaltet hat, einige ganz vortrefflich gezeichuete, der Baron
z. B., der vielredende und gründereiche liebenswürdige schwache
Herr, der erst ganz allmählich die Überlegenheit seiner Gattin
sühlt und sich ihr beugt, und diese Gattin selbst mit der Vor-
urteilslosigkeit ihrer Gedauken und der seineu Witterung ihres
aristokratischeu Gefühls. Auch das eheliche Verhältnis der
beiden zu einander ist sein und mit weit höherem als Durch-
schnitts-Können geschildert. Noch sonst ist vieles in diesem
Buche mehr als bloß schriftstellerische Arbeit. Aber Zobeltitz
wird noch besseres leisten, als das hier. Und vielleicht hat
er sich auch mehr als nötig die Wege beschränkt, indem er
immer auf die „Pflicht gegen sich selbst" zurückkommen möchte,
als deren lebendige Vertreterin die Baronin Wising nicht nur
handelt, sondern auch predigt. Ergiebt sich solch eine Lehre
ganz von selbst aus eiuem Kunstwerk — vortrefflich! Ge-
winnen wir aber auch nur da und dort den leisesten Berdacht,
der Verfasser überlasse seine Wesen nicht den Notwendigkeiten
ihrer eigenen inueren Lebensgesetze und derer des großen Alls,
sondern er lenke sie, indem er ihnen heimlich Befehle und
Ratschläge zuraunt, so beeinträchtigt das dem Leser den Ein-
druck, vor überzeugender Wahrheit zu stehen. Jmmerhin stören
solche Beobachtungen nur selten; von den deutschen Unter-
haltungsbüchern der letzten Jahre gehört das vorliegende zu
den besten.

» Scbrttten über Literatur. ö.

Shakesperes Frauengestalten. Von Louis Lewes.
(Stuttgart, Karl Krabbe.)

Der Reiz soll wahrlich nicht geleugnet werden, der einem
lebendigen Kopfe aus der Auseiuandersetzung eines geistvollen
Mannes von starker Persönlichkeit mit einem bedeutenden
Dichter ersteht — sühlen wir uns doch selten so auf der Höhe
des Seins, wie eben beim Belauschen einer solchen Zwiesprach.
Aber für den, der nicht allzu geübt ist im Bewahren des
„kritischen Gleichgewichts", bringt die Sache gar leicht die Ge-
fahr mit, daß er den betreffenden Poeten gegenüber seine
eigene Persönlichkeit bei Seite läßt, bis ein Anempfinden an
die Stelle jenes Selberfindens und Selbernachgestaltens tritt,

— iso —
 
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