Ikundsckau
Allgemeineres.
* Lergbabuen tn ästbetiscber Dinstcbt. Die in
jedem Jahre neu auftauchenden Nachrichten über neue Draht-
seil- oder Zahnradbahnen, dnrch welche immer neue Gipfel
der Alpen und anderer Touristengebirge anch dem steigunluftigen
oder steigunsähigen Reisenden zugänglich werden, erwecken natur-
gemäß sehr verschiedenartige Empfindungen. Sehr erklärlich
ist der Mißmnt aller wahren Naturfreunde, daß wieder ein
schöner Punkt dem Troß der Blasirten, der Schnellreisenden
und Bummler, die nur alles „mitgenommen" haben müssen
und die nur zu geeignet sind, einem alle Naturfreude zu ver-
gällen, erschlossen ist. Eine andere Frage aber ist, ob die
Bergbahnen an sich vom üsthetischen Standpunkt zu verwerfen
seien. Hierüber verbreitet sich I. G. Oswald in einem Aus-
satze der „Gegenwart" in solgender Weise:
Man sagt, die Bergbahn wirke wie eine prosaische Wendung
in einem schwungvollen Gedichte; sie entweihe den erhabenen
Zauber der Gebirgswelt. Die Meinung geht von Mund zu
Mund, nicht bloß im Kreise der eigentlichen Bergfexe. Jeder,
der noch etwas anf Stimmung, Poesie, landschastliche Schön-
heit u. dergl. hält, sühlt sich verpflichtet, sie zu der seinigen
zu machen. Aber warum?
Freilich lehrt die Erfahrung, daß jeder Vorstoß der
Zivilisation als ein Todesstoß des Malerischen und Poetischen
in Natur und Leben empfunden wird. Männer, in deren
Köpfen die Begeisterung sür die moderne Wissenschaft und ihre
zivilisatorische Macht ebenso hell leuchtet wie in ihren Herzen
die Bewunderung des Schönen und Naturwüchsigen, haben
sich schmerzlich genug mit diesem Gegensatz zwischen Bildung
und Ästhetik getragen. Doch sollte die Klage, die so beredt
von Tvuristenlippen klingt, wirklich aus der Tiefe eines solchen
Konsliktes stammen? — Nicht doch. Man rühmt ja sonst die
Annehmlichkeit, womit die Zivilisation die rauhen Pfade des
Bergwanderers bestreut: das Dampfboot, die Thalbahn, den
Telegraphen, nicht zu vergessen den behaglichen Komfort des
Gasthauses. Nein, mit den Bergbahnen, behauptet man, ver-
hält es sich anders. Sie sind unpoetisch, sie verunstalten die
Landschaft. Betrachtet sie nur: die gradlinigen Schienen, die
ungefällige Maschinerie mit dem unvermeidlichen Ranch und
Spektakel. Allerdings, ihr Anblick erweckt nicht ohne Weiteres
poetische Gefühle. Jndessen bei einer Postkutsche ist das ebenso
wenig der Fall. Was ist überhaupt poetisch?-„An sich
ist nichts weder poetisch noch unpoetisch; die Empsindung macht
es erst dazu."
Doch greifen wir nicht vor. Vergegenwürtigen wir uns
eine Gebirgslandschaft, noch unberührt vom Schienenstrang —
etwa einen der Alpenpüsse. Über Bergweiden hinweg schweift
das Ange zu den majestätischen Himmelssüulen, die so kühn
und ernst im weiten Umkreis emporragen, auf deren wetter-
gesurchten oder schneeschimmernden Knäufen die blaue Kuppel
ruht. Eine wunderbar poetische Stimmung, gemischt aus
Staunen, Grauen, Bewunderung, ergreift die Seele, doch
sreudig gehoben durch das Wohlgefühl, das die krästige Körper-
arbeit, die reine Lust, die ganze naturvollere Existenz erzeugen.
So im Banne einer großartigen, wildschönen Natur lauschen
wir den verlorenen Stimmen der Bäche, die ihren geheimnis-
vollen Quellen entspringen, wie luftige Schleier herabflattern.
Da entdeckt das Auge aus der in Schlangenlinien ansteigenden
Straße die Post. Kaum merklich rückt sie von der Stelle.
Stört uns das gelbgestrichene, hochbeladene Ungetüm, von
dem wir sagten, es wecke durchaus keine ästhetischen Em-
pfindungen? — Ernüchtert uns sein Anblick? — Mit nichten.
Das schwersällige Gefährt wirkt hier sast wie ein Teil des
Ganzen, es sügt sich harmonisch der Szenerie ein, wie der
Felsblock da unten, den die Gewalt der Wasser geschliffen, wie
das von Lawinen herabgestürzte Getrümmer, das rings auf
den Hängen starrt. Ja es hilft mit wie sie, den Charakter
der Gegend uns zum Bewußtsein zu bringen. Seht, wie die
Gäule sich abmühen, um es langsam hinauf zu schleppen! . . .
Ein Maler würde die Staffage um keinen Preis missen.
Nun ein anderes Bild: das Bild der modernen Großstadt
niit ihrem fieberhaft erregtem Leben, mit ihrem ohrbetüubenden
Getöse. Zwischen hohen Häusern ein ameisenartiges Gewirre,
das Durcheinanderhasten von Fußgängern, Reitern, Wagen,
Omnibussen, Pferdebahnen. Fabriken mit riesigen Schloten,
Eisenbahnen über Viadukte eilend, durch mächtige Hallen hin-
ausfliegend, sort über Brücken, durch Tunnel zn anderen
Stüdten und weiter bis an die Grenzen des Festlandes. Auch
dieser Anblick athmet Poesie — die Poesie des modernen
Lebens mit seinen grellen Lichtern und tiefen Schatten. Lösen
wir nun im Geiste einen Teil des Ganzen los, nehmen wir
aus der zusammenhängenden Kette von Erscheinungen ein be-
deutendes Glied — etwa die Eisenbahn — heraus und denken
wir uns an ihrer Statt die Postkntsche-aber da zuckt
es uns auch schon in den Mundwinkeln, die Vorstellung wirkt
einfach lücherlich. Warum? — Weil die Windeseile der
Schneckenart gewichen? — Dann müßten wir auch der Droschken
und Omnibusse lachen. Nein, in Folge einer Association,
wonach sich au jenes Vehikel der Gedanke an längst über-
wundene Zeiten knüpft, die von dem Leben um uns her wie
der Dämmer der Mondnacht vom helllichten Mittag abstechen.
Das Symbol jener sriedlich-gemütlichen Tage an Stelle dessen,
was das Vorwärtsdrüngende dieses Zeitalters so trefflich ver-
sinnbildlicht, erzeugt in unserer Empfindung einen Gegensatz,
der uns geradezu lachen macht.
Doch wieder zurück in die Berge. Versetzen wir uns
diesmal auf die Gotthardstraße, auf den alten Weg nach Lem
gelobteu Lande der Kunst. Unser Herz ist der erhabenen
Größe der Alpenwelt weit aufgethan, es giebt sich ganz den
Empfindungen hin, die sie erweckt. Plötzlich gewahren wir
hoch über dem klaffenden Schlund die kühne Fachwerkbrücke
der Eisenbahu. Es schrillt ein Pfiff und dampsend entbraust
der Zug dem schwarzen Loch der Bergwand, donnert über den
schwankenden Steg, um sofort wieder den Blickeu zu ent-
schwinden. Was geht bei dem Anblick in uns vor? — Keine
Frage, jetzt fühlen wir uns wirklich ernüchtert, wir sühlen
uns aus der Naturbetrachtung und den sie begleitenden Em-
pfindungen jählings herausgerissen. Der Grnnd ist nicht etwa
die momentane Störung, die der unmittelbare, sinnliche Ein-
druck der Eisenbahn verursacht. Wäre das bloß eine solche,
unsere Hingabe an die Natur würde sich ebenso leicht wieder
herstellen lassen als uach irgend einer anderen störenden Be-
wegung, z. B. mit einer Holzsuhre, die uns nötigt, auf die
Seite zu treten. Der Grund liegt tiefer. Zu dem sinnlichen
Eindruck gesellt sich ein geistiger. Wir sehen nicht nur die
dampfgetriebene, auf Eisenrädern dahinrollende Bahn, wir
sehen zugleich das Gesührt des modernen Weltverkehrs, wir
sehen zugleich mit diesem das moderne Leben überhaupt, ein
Bild desselben nach Maßgabe unserer individuellen Erfahrung
heftet sich an die Wucht und Schnelle des vorüberhastenden
Zuges. Wie aus leichtem Schlummer geschreckt wacht die
Vorstellung dessen, dem wir uns in der Einsamkeit der Berge
eine Weile aufathmend enbziehen wollteu, von Neuem in uns
auf. Mag die Bahn auch im Fluge euteilen, mögen die auf-
geregten Sinne sogleich loieder Muße uud Freiheit haben, sich
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