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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 24 (2. Septemberheft 1894)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0382

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E--



DLcdtung.

* Lcböne Ltteratur. 4Z.

Schloß der Zeit. Von Cäsar Flaischlen.
(Berlin, F. Fontane L Co.)

Ein sehr eigenartiges Buch ist es, das sich uns hier dar-
bietet, eigenartig wie schon seine Bezeichnung: „Eine Sylvester-
Paraphrase in sieben Bildern". Das Werk gehört in die
Reihe der jetzt zahlreicher erscheinenden Dichtungen, in denen
der frei schaffenden Phantasie ein großer Spielraum gewührt
wird. Aber es leidet an den Schwächen dieser Gattung, die
ich neulich bei der Besprechung von P. Remers „Unterm
Regenbogen" erwähnte: es ist in seinen Phantasien allzu breit
und bei aller Breite nicht klar.

Die Sylvesternacht, den Übergang des alten ins neue Jahr,
schildert uns Flaischlen in einer großen Allegorie. Alle Be-
griffe, die da mitspielen, erscheinen verkörpert: Tag und Nacht,
das alte und das neue Jahr, Winter, Sylvester, Neujahr,
Schicksal, Glück, Frieden, Eintracht, Haß, Not, Streit usw.
Über allen thront die Königin Zeit, in deren Kronschloß in
der Sylvesternacht das alte Jahr die Herrschaft abgiebt und
wo das neue Jahre damit betraut wird. Den größten Raum
des Buches nehmen nun aber bloße Beschreibungen des
Schlosses der Zeit, der Wohnsitze aller guten und schlechten
Eigenschaften, die in weitem Umkreis um das Kronschloß
herum liegen, und dann der Festlichkeit um Sylvester-Mitter-
nacht ein. Flaischlens Phantasie geht hier ins Ungemessene;
eine phantaftische Schilderung folgt der andern, jede überreich
an ausschmückenden Bildern und Beiwörtern, in einer be-
täubenden und sinnverwirrenden Fülle. Und schließlich bietet
uns das ganze Werk fast nichts, als diese durch ihre Unzahl
ermüdenden äußerlichen Beschreibungen. Der „Worte" werden
verschwindend wenige nur gewechselt. Sollte der Dichtung
noch ein tieferer Sinn zn Grunde liegen, fo wür's doch einer,
den man bei unbefangener Lektüre nicht merkt. Mir ift es
daher überhaupt nicht klar, was der Verfasser mit diesem
ganzen Werke eigentlich gewollt hat. Aus all den Mängeln
leuchtet aber doch hervor, daß Flaischlen eine dichterische
Phantasie besitzt, die bei richtiger Bändigung und Lenkung
wohl Ausgezeichnetes schaffen könnte, und daß ihr eine Sprach-
kraft zur Seite steht, die ihre Schöpfungen vollkommen aus-
drücken könnte. Hoffen wir also darauf, von dem Verfasser
bald ein abgeklärtes und ausgegohreneres Werk, als dies
rätselbafte „Schloß der Zeit", zu erhalten. L. Höber.

* Lcbrttten über Literatur. 9.

Die Suggestion und die Dichtung. Gutachten

über Suggestion und Hypnose. Herausgegeben von Karl
Emil Franzos. (Berlin, F. Fontane k Co.)

vorbemerkung. Manchem Leser dürfte es scheinen,
als wenn wir mit der Besprechung des eben genannten Buchs,
das z. B. schon in dem Leitaufsatze Kw. VI, 8 von dem Ver-

fasser der folgenden Kritik berührt worden ist, etwas sehr

post iestuin kämen. Aber der Gegenstand, um den sich's
handelt, ist heute noch mehr „aktuell", als er vor zwei Jahren
war, da die Schrift erschien. Es sind ganz beftimmte Be-
obachtungen, die uns veranlaffen, auf die Sache zurückzukommen.

Kw.-L.

Karl Emil Franzos war dem Tagesinteresse des ästheti-
sirenden Publikums auf das Geschickteste entgegengekommen,
als er von einer Reihe hervorragender Physiologen und Nerven-
Pathologen über die Erscheinung der Suggeftion und ihre
Darftellung in Dichterwerken Gutachten einholte. Diese Gut-
achten haben einiges Aufsehen erregt und sind in der Tages-
presse lebhaft besprochen worden. Erwähnt wurden sie auch
an dieser Stelle bereits, und in einem Leitaufsatze des Kunst-
warts nahm ich fie zum Ausgangspunkt von Betrachtungen

Ikundsckau.

über „Anrüchige Stoffe". Aber die Fragen, welche der Titel
andeutet, sind wichtig genug, um auch an und für sich einmal
noch besprochen zu werden.

Vom naturwissenschaftlichen oder philosophischen Stand-
punkte aus sind die Gutachten — so sehr sie sich auch wider-
sprechen — ungemein aufklärend und feffelnd zu lesen. Es
ist bies am Ende nur selbstverständlich, wenn man erwägt,
daß sich hier anerkannte Autoritäten über ein in ihr Fach
schlagendes Gebiet äußern. Jn üsthetischer Hinsicht muß freilich
das Werk einiges Befremden erregen. Es erhellt wieder
einmal deutlich, daß die Ästhetik ein Stiefkind der Wissenschaft
ist, daß sie nicht recht für voll angesehen und einer ernsthaften
Behandlung nicht für wert gehalten wird. Es ist geradezu
peinlich, zu beobachten, wie hervorragende und erkenntnis-
theoretisch trefflich geschulte Gelehrte sich plötzlich in vagen,
von wenig wissenschaftlicher Vorsicht zeugenden Allgemein-
urteilen verlieren, sobald sie das Gebiet der Kunft berühren,
daß sie es nicht einmal für angezeigt halten, die Frageftellnng
zu beachten. Und es kann die Klarheit nicht vermehren, wenn
sie trotz der bagatellmäßigen Behandlung der Probleme die
ihnen auf anderem Gebiete zukommende und bereitwillig ge-
währte Autorität nuu auch für äfthetische Fragen in Anspruch
nehmen.

Man hat es Herrn K. E. Franzos zum Vorwurf gemacht,
daß er an „Laien" die Frage gerichtet habe, ob sich die Dicht-
kunst der Hypnose und Suggestion bemächtigen dürfe. So
schrieb ganz unverfroren ein Kritiker: „Geschickter Weise hat
er (Franzos) die Frage dahin zugespitzt : spie es mit der Ver-
wertung der Suggestionslehre bestellt sei. Damit war der
ganze moderne ästhetische Streit an seiner tiefsten Stelle auf-
gerührt, und es ist gewiß charakteristisch und für unsere Zeit
symptomatisch, daß Männer der medizinischen Wiffenschaft auf-
gefordert (!) wurden, eine ästhetische Frage zu lösen (!)
und womöglich der Kunst Schranken zn setzen."
Das ist, wenn man sich an den Wortlaut des Franzosischen
Rnndschreibens hält, einfach nicht wahr. Der Herausgeber
der Deutschen Dichtung hatte unmittelbar nur die Frage
aufgeworfen: ob gewisse besonders frappirende Erscheinungen:
die posthypnotische Suggestion und ihre Verwertung für ver-
brecherische Handlungen, — die Telepathie, d. h. die Willens-
übertragung aus der Ferne, — die Suggestion ohne voran-
gegangene Hypnose — möglich seien, insbesondere ob gewisse,
durch die Tagespresse verbreitete, genau angegebene Fülle An-
spruch auf Glaubwürdigkeit erheben könnten; sodann aber —
und dies war die einzige Frage, welche die Ästhetik ftreifte, —
ob die Behandlung der Suggestion seitens „des" modernen
Naturalismus der Wirklichkeit entspräche: „Sagt der Natura-
lismus: es ist mein gutes Recht, solche Fülle zu behandeln,
wie sie der Wahrheit entsprechen, so ist es das gute Recht der
Kritik, die Wiffenschaft zu fragen: entsprechen diese Fülle der
Wahrheit?"

Das heißt an sich gewiß nicht, die Vertreter der Wissen-
schaft auffordern, ästhetische Fragen zu lösen oder der Kunst
Schranken zu setzen. Wohl aber muß zugestanden werden, daß
in der That einige der Professoren sich veranlaßt sahen, in
diesem Sinne ihr Urteil abzugeben. Und auch das kann nicht
geleugnet werden, daß K. E. Franzos zwar nicht den Ver-
tretern der Wissenschaft, wohl aber sich selbst ein wenig das
Recht einräumt, das Stoffgebiet der Dichtung zu Leschränken.
Geht doch aus dem ganzen Tone seines Rundschreibens eine
starke Animosität gegen jede künstlerische Verwertung der
Suggestionserscheinungen hervor. Und er versteigt sich in diefer

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