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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 24 (2. Septemberheft 1894)
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Von der dekorativen Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0381

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wirkt, wenn ich mich in die fein nüanzirten und nur dem
impressionistischsten aller Maler wahrnehmbaren Wogen
einer großstädtischen rauschenden Straße stürze, so wirken
auch die hörbaren Takte dieser Bewegung, die Schall-
äußerungen ihrer großen Atemzüge beschwingend aus meine
Seele, und angetrieben durch diesen unaufhörlichen Riesen-
tanz der Wirklichkeit kann ich den Strudel meiner inneren
Vorgänge nicht dämmen und fühle neue, heiße Kräfte.
Der Takt faßt die Leidenschaften zusammen, er prickelt
hier, er wippt dort, aber dann wieder geht seine Brust
in begeisternden Atemzügen auf und ab, und nicht bloß
der wilde Jndianertroß im Kriegstanze, auch die zivilisirte
Welt im Salon, im Garten, im militärischen Dienst fühlt
sich dieser dämonischen Macht des Rhythmns unterthan,
der gleichschwingend tausende von Einzelbewegungen auf
ein Tempo bringt und ins Riesenhaste anwachsend auch
sie steigert. Ohne daß wir Noten hören — wenn das
Militär vorbeizieht, so zuckt es in uns unbezwinglich von
diesem großen Takt, der Menschenmassen eint. Und wenn
wir im Konzertgarten uns unterhalten und gar nicht wissen,
was uns vorgespielt wird, ganz heimlich steigt doch in
uns hinein sener strasfe Rhythmus mil seinen Hebungen
und Senkungen, seinem Atemholen und Atemgeben, seinem
Crescendo und Decrescendo, und er stimmt unsere Seele
frisch und selbstbewußt, er giebt ihr unwillkürlich Schwingen.
Der Rhythnius der Musik ist hier der Führer des großen,
verwickelten Taktmechanismus, in dem stch die Welt des
Schalles äußert. Jn ihm stilisirt die Musik nicht mehr
bloß das Geräusch an sich, sondern die künstlerischen Formen,
in denen dieses Geräusch heraustritt. Er giebt wie mit
dem Taktstock die Pulsschläge an, in denen sich die Laut-
welt sammelt, und er dirigirt „unterbewußt" die parallelen
Bewegungen unserer Seele.

Dasselbe auf der anderen Seite der dekorativen Musik,
der tonalen. Zum Rhythmus gesellt sich der Ton; ver
Laut ist nicht bloß ein Schallefsekt, sondern auch nach Höhe
und Tiefe verschieden, er wird zur Musik als Tonkunst.
Und alles ebenso, wie wir es dort fanden bei dem Laut
seiner Stärke nach, sinden wir hier beim Lant seiner Höhe
nach. Die Kurven des Steigens und Fallens, die wir
aus dem Geräusch der Menschen und ihrer Umgebung
heraushören, werden auf ihren feinsten Gehalt gebracht
durch die melodisch und harmonisch fiyirte Bewegnng des
Tonstücks. Wie sich da die Linie der Melodie zeichnet,
wie die Schattirungen der Harmonie hinzutreten, wie sich
in großem Wellengange die Tonweise auf- und niedersenkt,
bald schmeichelnd, bald zerreißend, bald weinend, bald
liebestoll: das ist ein weites, zitterndes Spiegelbild tiefster
Seelenbewegungen, das auch unbewußt unserm inneren
Ohr wohlthut. Von einer harmonisch in sich befriedigten

Sphärenmusik klingt da zu uns etwas herüber, und wir baden
uns in dieser lauen Luft der ungedeuteten Erinnerungen.

Jch spreche von Dingen, von denen sehr schwer zu
sprechen ist. Ich will erklären, daß das Wesen jener
dekorativen Musik in der „unterbewußten" Grundlage be-
steht, auf der diese Kunst wie sede andere zu operiren hat.
Jch habe zu zeigen versucht, daß sich diese unterbewußten,
ungewollten Wirkungen zerlegen in das Stilisiren der
lärmenden Masse durch rythmische und durch tonale Formen
und daß die Musik, indem sie damit die ganze Welt der
Lauteindrücke anführt, in suggestiven Parallelbcwegungen
unsere Seele antreibt, ersrischt und — bejaht. Das liegt
fern von der gewöhnlichen Analyse und bewußten geistigen
Arbeit, mit der wir der Musik und ihren Darbietungen
gegenübertreten. Aber trotzdem ist es das Allergewöhn-
lichste. Denn auf die meisten, die Durchschnitts - Organe
wirkt gerade hie Musik nnr in solcher unterbewußten An-
regung, sie wirkt so,auf alle die, welche nicht gerade un-
musikalisch sind, aber sich auch nicht musikalisch zu nennen
wagen. Wie geht es ihnen, selbst wenn sie aufmerksam
zuhören? Noch lange hören sie keine Noten, aber von
dem Augenblicke an, da der erste Ton eingesetzt, fühlen
sie sich eigenartig gehoben, begeistert, beschwingt, fast wie
in einem leichten Rausch, der sie alle Sorgen des Tages
vergessen läßt und sie in einen Himmel ewiger Harmvnieen
hebt. Diese psychologische Wirknng der Musik, die mit
ihrer Technik und Meisterschaft nichts zu thun hat, können
wir uns erklären durch die Annahme jener suggestiven
Parallelwirkungen rhythmischer und tonaler Art, in deren
Gewebe die Musik Führerin und Erweckerin ist. Das ist
die Macht der Militärmusik — auch der banalsten, der
Tafelmusik — auch der bescheidensten und des Garten-
oder Bierkonzertes, auch des allerdekorativsten.

Die höchsten künstlerischen Ansprüche wird unter diesen
immer noch die Gartenmusik äußern können. Sie ist das
eigentliche Feld der Wirkungen dekorativer Tonkunst. Man
wird von ihr nicht die Vollendung des epklusiven Winter-
konzertes verlangen. Aber von den Klängen, die da an
unser Ohr fliegen, werden wir die verhältnismäßig größre
Befriedigung empsinden, wenn sie die Anforderungen jener
Suggestion am besten erfüllen: wenn sie, ohne sich allzu
sehr vorzudrängen, viel mit bekanntem und um so
schmiegsamerem Material arbeiten und rhythmisch
und tonal in einer gewissen Einsachheit und Über-
sichtlichkeit sich halten, der wir uns willig hingeben,
ohne daß sie uns nur einen Moment reizt, den Einzel-
heiten ein schärferes Ohr zu leihen. Ob es wohl Svmmer-
Kapellmeister giebt, fragt man, die nach solchen Gesichts-
punkten ihre Programme aufstellen? Unwillkürlich thun
sie es Alle. Dskar Me.


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