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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 20 (2. Juliheft 1894)
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Bie, Oscar: Moderne Prosa
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0317

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Gedanke buntbeflügelt hiininelwärts steuert einem Äther zu,
den er sich selbst rücksichtslos erschließt — Bilder, wie sie
derMeister moderner deutscher Prosa, Nietzsche, in berückender
Schönheit hingezaubert hat — —

Unsere Prosasammlung „Neuland" zeigt uns Einiges
aus diesem großen Reiche. Alles, was nach der Theorie
hinüber neigt, läßt sie beiseite. Nur das wählt fie aus,
was man „Lelletristisch" nennt, aber so nicht mehr nennen
darf. Und doch auch hier: welche Nüanzen in der Formung
des Stoffes — eine große Skala von „Gedichten", deren
Form nnr „Prosa" ist, Lis zu „Prosen", die sich vergeblich
bemühen, „Gedichte" zu werden. Eines ist ihnen gemeinsam:
Allen liegt die große Lehre des charakteristischen, tief-
bohrenden Sehens im Blut. Aber wohin sie sehen, ist
sehr verschieden. Welche Meilenweite: Bierbaums sein
abgewogene Prosagedichte, Hegelers tiefsympathisches und
bedeutungsvolles Novellentalent, Schlafs psychologischer
Jmpressionismus, Liliencrons rücksichtslose Stosflichkeit,
Hartlebens behäbiger Humor, Harts traumwirkliche
Phantasie, Halbes kräftige Charakteristik, und wie es da
weitergeht. Keine Uniformität des Sprechens: ob bedeutend,
ob unbedeutend, jeder spricht, wie er empsindet, er deckt
seine Gefühle und seine Träume nicht mit der Glätte einer
erborgten Sanstmut und Salonfähigkeit zu.

Jch wollte Näheres zum Beispiel bringen; wollte etwa
die bezeichnende Stelle aus Hegelers „Martha" anführen,
wo der Frühling, der ungekannte, zum ersten Mal in die
Seele einer armen Dachstubenbewohnerin einzieht, die ans-
schreien möchte vor ungeahntem Glück, wo sie aus das
Wasser des Müggelsees hinausblicken unter der Dämmerung
von unendlicher Weichheit, daß sich alles in süßeste Har-
monien auflöst, die matteren Farben, die ersterbenden
Vogelstimmen, dazwischen wie sanftes Liebkosen einer
Frauenhand das Geplätscher der Wellen. Es wird kühl,
Bernhard schlägt sich den Rockkragen heraus — der Mond
tritt aus den langsam, mit Feierlichkeit auseinander-
rauschenden Wolken — sie lauschen, als klänge in ihrer
Seele wirklich ein Ton — er taucht ins Wasser hinab
und taucht wieder hervor in flimmerndem Silber, aber
in halber Tiefe unter den Wellen ruht er wie eine große,

reine Schale.ich sinke wieder in diese wunderbar

getrosfene Stimmung hinein, aber was will man an heraus-
gerissenen Stellen zeigen? Die Realistik des herauf-

geschlageneu Rockkragens inmitten dieser Lyrik? Das
geht nicht, das klingt so lächerlich und nimmt dem Jnhalt
seinen Geist; wir verstehen uns, der Leser und ich, und
wenn er meinem Rate folgen und zur Lektüre des „Neu-
lands" greifen wird, mag er es überall Lestätigt finden:
die Fähigkeit der modernen Prosa, wie ein schrankenloses
Gedicht, gegen fich selbst wahr zu sein ohne jeden
Formalismus eines überlieferten Schreibstils.

Es ist ein Realismns, der so die Grenzen zwischen
Dichtungs- und Prosasprache ganz verwischte, daß heut
Manches, was sich in abgeteilten Versen giebt, nichts als
Prosa und manche Dichtung in laufenden Zeilen nur freie
Verssprache ist, wie z. B. der Traum des Schläfers in
Bierbaums „Kahn" mit der steigenden Erregung in den
regelmäßigen Atem von Jamben und Anapästen übergeht.
Es ist ein Realismus, weil er der Prosa jede formale
Verschönerung von gewöhnlicher Sprechprosa abgewöhnt
und sie durchtränkt mit den Gluten warmer Lyrik. Ent-
wickelte sich die Goethische Prosa aus einer Feilung, Breit-
legung und Reinigung des Konversations- oder Lehrtons,
so ist die heutige Prosa im Wesentlichen aus dem Sprech-
ton der intimsten lyrischen Poesie herausgewachsen. Das
sind Grundgegensätze. Aber vielleicht liegt darin ein nütz-
licher Beruf moderner Prosa eingeschlossen. Natürlich
mildert sie in ihrem ungezwungenen Fluß die starken
Subjektivitäten und Plötzlichkeiten einer rein lyrischen
Dichtungsart; sie giebt sie dem Leser liebenswürdiger und
bescheidener hin. Vieles, was die moderne Wendung der
Literatur ausgebildet hat, war nur ein Reis, auf dem
Baume der Kunst selbst erwachsen, ein Ableger, den nur
diejenigen lieben nnd verstehen konnten, die die Kunst schon
mit ihrer ganzen Vergangenheit in sich hatten. Es war
eine „Kunst für die Kunst". Aber es ist immer mehr von
Nöten, daß jede Gourmanderie verschwinde, daß auch die
Ableger dazn kommen, ganze, feste Bäume im tiefen Erd-
reich zu werden. Sie sind nun reif dazu. Und daß so
manche der intimsten Lyrismen, die bisher nur im Aller-
heiligsten des Kunsttempels ruhten, srei werden nach draußen,
daß die „Kunst für das Leben" so gut es gehen will —:
denn ganz geht es niemals — ihre Sendung erfülle
vielleicht thut dazu das ihre die moderne Prosa, wie immer
eine gute Vermittlerin zum Herzen des Volkes.

Gskar Me.

Dicbtung.

NundsckiAU.

» Lcböne Lttcratur. 4l.

Letzte Dorfgänge, Ralendergeschichten und
Skizzen aus dem Nachlaß von Ludwig Anzengruber.
(Stuttgart, I. G. Cotta Nachf.)

Der Band bringt auf seinen H8? Seiten 27 kleinere dich-
terische Arbeiten Anzengrubers, die Bettelheim und Chiavacci
im Austrage des Anzengruber- Kuratoriums herausgegeben
haben. Der Dichter selbst gedachte, wie uns das Vorwort

weiter mitteilt, diese Stücke als neue Folge seiner srüheren
Sammlungen zu veröffentlichen, und er pflegte Einwendungen
gegen die Aufnahme dieser oder jener Erzählung lachend mit
der Erklärung abzuschneiden: „Hilst nix, kommt do ins Büchel."
Und er hat mit seiner Auffassung sehr recht gehabt, denn es
ist nichts in der Sammlung, was man vermissen möchte, so
sehr die Gaben in ihrem Wert zwischen bloß Unterhaltendem
und Jnteressantem bis zu wahrhast Bedeutendem schwanken.


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