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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 3 (1. Novemberheft 1893)
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Lose Blätter
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0052

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Vereins der Künstlerinnen in Berlin als ein gar eifriger
Kämpe gegen das Ncue. „Es gewinnt jetzt den Anschein, als
ob eine junge Generation, eine cigentümlich alternde Jugend,
sich wiederum von allen Traditionen loslösen, einen direkten
Weg bloß durch die Natnr zur Kunst finden wolle. Es sind
dies die Propheten der Häßlichkeit, des Kleinen und Neben-
sächlichen, welche sich lediglich auf Nachahmung der Natur be-
rufen. Die Nachahmung aber bleibt immer unter dem Originale
und ist schließlich zwecklos. Man sollte sast meinen, es wolle
uns diese Richtnng glauben machen, es gebe überhaupt ein
Kunstwerk, ohne daß der menschliche Geist und das menschliche
Herz daran mitgewirkt habe. Jch glaube, man kann dieser
irregehenden Richtung unserer Tage nicht besser begegnen, als
indem man die Kunstlehre des Lionardo da Vinci im Ver-
gleiche mit dem, was er als Künstler geleistet, ihr entgegen-
hält. Lionardo da Vinci ist der modernste aller Maler, die
es giebt; an Zeichnung ein Menzel, an Größe der Ausfassung
nur mit den ersten Größen vergleichbar, hat er in seiner
Kunstlehre die Natur zur alleinigen Richtschnur gemacht. Stu-
diren soll der Künstler Alles in der Natur, aber gebrauchen
kann er nur das große Allgemeine, das sür seine geistigen
Zwecke dienlich ist. Alle die Finessen, die heute als neue Ent-
deckungen gepriesen werden, Lioin nir und was alles dazu
gehört, hat schon Lionardo da Vinci beobachtet; aber er wußte
.sehr wohl, daß der Künstler, um ein Kunstwerk zu schaffen,
nicht sein unmittelbares Studium verwenden kann, und darum
atmen seine Werke, obgleich ihnen die Natur als Vorbild ge-
dient, trotzdem die höchste Jndividualität. Jn unserer heutigen
modernen Richtung liegt ein Verwechseln des geschichtlichen
Jnteresses an der Erscheinung mit dem künstlerischen, und erst
wenn das überwnnden ist, können wir hoffen, daß diese jungen
Kräfte als erfrischende Elemente in den Gang der Entwicklung
eingreifen werden." Jordan hat Recht: es ersteht kein Kunst-
werk, ohne daß „der menschliche Geist und das menschliche Herz"
daran mitgewirkt haben. Und eben deshalb lassen auch die
„Naturalisten", selbst wenn sie glauben, nur die Natur zu
kopiren, Geist und Herz mitwirken, salls sie überhanpt Künstler
sind. Und sind sie keine, so geht schon jetzt die Zeit über sie
hinweg —wie über jene „Jdealisten", die, wie Jordan, nur
da ein Jdeal erkennen können, wo es sich selber gleichsam aus-
rnft, nicht aber auch da, wo es für den Verstehenden einfach
hervorleuchtet, wie sür den Seelenkundigen aus einem schlichten
Menschenangesicht die Seele. K e i n Künstler, auch der größte,
auch ein Lionardo nicht, kann heraustreten aus seiner Persön-
lichkeit, ja, er kann es je weniger, je größer er als Künstler
ist, je stärker er also mit seiner Persönlichkeit empfindet —

nnd so mag er uns wohl, wie kein Anderer, erhellen und
deuten, was ihm gemäß ist, was seiner Empfindnngsweise
entspricht, nicht aber wird er Gesetze geben können, auch wie
Andere empfinden sollen. Deshalb ist es eine Thorheit,
hier mit Künstler-Autoritäten schrecken zu wollen. Nicht vom
Künstler, sondern vom Kritiker, vom Kunsthistoriker, vom
Museumsverwalter haben wir unparteiische Beurteilung der
verschiedenen Knnstrichtungen zu verlangen. Daß wir sie
bei Jordan nicht finden, brauchte uns nicht erst seine Rede
zu beweisen; es bezeugt leider seit lange die Verwaltung der
Nationalgalerie, die schlimmer als einseitig ist. Wir würden
dieser keinen Vorwurf daraus machen, daß sie in der letzten
Zeit hauptsächlich Tier- und Marinestücke erworben hat, bei
denen von dem „großen Allgemeinen, das sür geistige Zwecke
dienlich ist" in unfreiwillig lustigem Gegensatz zu den Forder-
ungen der Jordanschen Rede doch wohl kaum gesprochen
werden kann. Wir würden es nicht thun, erwürbe sie von
Bildern so „harmlosen" Jnhalts doch solche, die deutlich
Zeugnis dafür ablegten, wie unsere Zeit das Faustische Wort
zu beantworten ringt: „wie saff ich dich, lebendige Natur?"

Ganz anders, als Max Jordan, denkt ein anderer Alter,
ja einer der ältesten unter den deutschen Knnsthistorikern,
Karl von Lützow. Jn einem Programmartikel über „Neue
Bahnen" sagt er in seiner „Zeitschrist sür bildende Knnst":
„Am deutlichsten aber zeigt uns die Malerei den Werdeprozeß
der neuen Zeit. Wir treten damit nnn der Frage nach deren
künstlerischen Zielen näher. Die Münchner »Sezession«, so
viel man sie auch schmähen mag, hat das unleugbare Verdienst,
die Beantwortung derselben dadurch erleichtert zu haben, daß
sie eine bedeutende Zahl der Neueren und Neuesten zu einem
harmonischen Ganzen vereinigte. Es ist wahr, man findet
noch viel Unausgegohrenes, viele Lehrlingsarbeiten unter den
Meisterstücken. Auch das ist nicht zu leugnen: Manche Ver-
treter der neuen Jdeen sind noch bei den »ewig Gestrigen« im
Glaspalast zurückgeblieben. Aber diese Unklarheiten waren
stets die natürlichen Begleiterinnen derartiger Scheide- und
Werdeprozesse. Und so viel ist sicher: Den Münchner Sezessio-
nisten gehört die Zukunst; wer sich ihnen nicht anschließt, wird
unrettbar dem Schablonentode versallen." Der Schlußsatz sagt
wohl zu viel. Aber zum mindesten gleich geelmeten Kampf-
boden wie die Künstler von der Genossenschaft dürfen die der
Sezession in München gewiß verlangen. Der Widersinn und
die Ungerechtigkeit, daß der bairische Staat die vom Volke
bewilligten Mittel ausschließlich der Genossenschaft zuwendet,
kann ohne schwerste Schädignng seines Ansehens als des
höchsten Kunstverwalters nicht mehr lange erhalten bleiben.


Lpreckssal.

Zur Biographie des Liedes.

Wer hat das erste Lied erdacht? — Wann entstand
das erste Lied? — Wie? — Bei welcher Gelegenheit?

Kaum wird es einen Verehrer der Poesie geben, der
sich diese Fragen nicht schon vorgelegt, der nicht schon über sie
nachgedacht hätte. Schon wiederholt ist der Versuch ge-
macht worden, diese Problemgruppe zu lösen; doch wird
sich die Ästhetik mit dem Troste absinden müssen, daß es
auch vielen anderen Gebietcn geistigen Schafsens versagt
blieb, auf den Urgrund klar zurückblicken zu können. Weder
die Geschichte noch die Psychologie sind tiefgründig genug;
allein sie lassen wenigstens ahnen, wie sich die Poesie ent-
wickelte, sie geben Punkte an, bis zu welchen man vor-
driugen kann, um auf Grund dieses Weges und der Be-

obachtungen, die er ermöglichte, der Aussichteu, welche er
bot, umfassendere Schlüsse nahe zu legen uud so das Gebiet
der Spckulation zu betreten. Eine völlig sichere Antwort
dürfen wir also über die Anfänge der Poesie nicht er-
warten. —

Einzelne Ästhetiker uennen schon den ersten Schrei eines
Kindes einen lyrischen, der aus Unlust hervorgegangen sei.
Das scheint zu weit ausgeholt zu seiu! Zudem steht ziemlich
fest, daß dieser erste Schrei auf rein mechauischem Wege
entstanden ist, und der ganzen Lage der Sache nach müßte
man ihm eher ein Lustgesühl als Motiv unterlegen.
Es wundert mich, daß man aus obigem Grunde nicht den
Menschen einen geborenen Pessimisten nannte, der seiuen




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