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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 22 (2. Augustheft 1894)
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0358

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-L


LpreckSÄÄl.

Die geschichtliche wahrheit in den Schauspielen.

Jn der Wohnung meiner Eltern hing ein Bild, zu
dem ich als Kind nie anders als mit andächtiger Kunst-
begeisterung emporschen konnte. Es stellte eine freundliche
Landschaft dar. Alles an dem Bilde stimmte mich zu
stiller Betrachtung. Eines Tages machte ich die ernüchternde
Entdeckung, daß die Schatten der gemalten Gegenstände
nach einer ganz falschen Richtung stelen, nach einer Richtung,
die nüt der Darstellung des Himmels in striktem Wider-
spruch stand. Sofort war's mit meiner Begeisterung
vorbei; ich konnte das Bild nicht mehr ohne Ärger
ansehen. Dieser an sich unbedeutende Vorgang fiel mir
ein, als ich seiner Zeit Wildenbruchs „Quitzows" auf-
führen sah; er taucht fast sedesmal in meiner Erinnerung
auf, so ost ich ein historisches Drama zur Besprechung in
die Hand nehme. Jmmer wieder stehe ich vor einem
Zwiespalt von eigner Art. Jch stnde recht Vieles ganz
gut, indessen — die Wirkung geht mir verloren. Die
Erklärung schöpfe ich aus dem eingangs erwähnten Vor-
gang. Jch erkannte, daß die meisten dieser historischen
Dramen ihre Wirkung vor einem Publikum, das wenig in
der Geschichte bewandert ist, durchaus nicht verfehlen würde.
Damit hätte ich meinen Standpunkt in dieser Angelcgenheit
schon zur Genüge gekennzeichnet.

Ein Bühnenwerk, welches willkürlich mit der historischen
Wahrheit umspringt, hört in meinen Augen auf, ein Kunstwerk
zu sein, soviel Kunst es auch im Einzelnen verraten mag.
Unumgängliche Vorbedingung für vollständige Wirkung
einer künstlerischen Schöpsung ist die Jllusion. Wird diese
durch irgend ein Moment gestört, so ist der geschlosscne
Eindruck dahin, und die Leistung kann im besten Falle
nur noch durch Einzelheiten wirken. Unvermögen in der
freien Behandlung der Technik, Mangel an innerer Folge-
richtigkeit in der Charakterführung, unerwartetes Dazwischen-
treten fremder Bestandteile (Witze, Jronie, Reflepionen des
Künstlers an salscher Stelle), Abweichung von den That-
sachen, das sind nach meiner Meinung die vier Dinge,
von denen jedes einzelne hinreicht, die Jllusion aufzuheben
und die Wirksamkeit einer künstlerischen Arbeit in Frage
zu stellen. Es soll mich — in der Annahme, daß ein
Werk die aus den ersten drei Dingen sich ergebenden
Forderungen erfüllt — nur das letzte beschäftigen. Jch
halte also für notwendig, daß ein historisches Drama in
keinem Stück von den Thatsachen abweiche, und ich weiß, daß
nicht alle gleicher Meinung sein werden. Wie, höre ich sagen,
soll denn ein historisches Drama ein Kapitel aus einem
Lehrbuch sein? Gehe ich denn ins Theater, um Geschichte
zu studiren? Die so sprechen, haben allerdings eine ge-
waltige Autorität hinter sich. Kein Geringerer als Lessing
stellt in seiner Dramaturgie (td., 23. und 2§. Stück) den
Satz auf, daß der Dichter srei über dem Stoff stehe, daß er
von der historischen Wahrheit abweichen dürfe, fo weit er
will, wenn nur die geschichtlichen Charaktere gewahrt bleiben.
Leider muß ich dem widersprechen. Wer in ein historisches
Schauspiel geht, bringt durchaus fertige, vollstäudig bestimmte
Vorstellungen, eine ziemlich eingehende Kenntnis des darzu-
stellendes Stoffes mit. Es muß mich aber eigentümlich be-
rühren, wenn ich auf der Bühne Dinge sich zntragen sehe,
von denen ich mir jeden Augenblick sage: Das ist nicht wahr!

Alles, was den Widerspruch herausfordert, muß der
Künstler vermeiden, wenn fein Genie nicht etwa stark genug

sein sollte, diesen zu besiegen, von welchem Falle nachher die
Rede sein soll. Seine Aufgabe ist es immer, der Kritik die
Wassen aus der Hand zu winden, nicht, ihr neue schassen.

Jede Aktion, die von den feststehenden Thatsachen ab-
weicht, reißt den Zuschauer aus der Jllusion heraus und
schleudert ihn in die Wirklichkeit zurück. Nicht mehr
als in der Handlung stehend, als mit den Personen
fühlend, wird er sich erscheinen, sondern als außerhalb
stehend; und der Außenstehcnde wird das Geschehende stets
mit kritischen Glossen begleiten. Das ist ja eben das Wesen
eines wahrhaften Kunstwerkes, daß es den Hörer mit unwider-
stehlicher Gewalt in seine Atmosphäre zwingt. Den Draußen-
gebliebenen umweht die frischc Zugluft der Skepsis, und in
der zerflattern die zarten Gebilde der Poesie sehr schnell.
Aus nichts könnte der Dichter das Recht, mit den Thatsachen
nach Belieben schalten und walten zu dürfen, herleiten.

Wie würden wir den Maler ansehen, der zu uns
sagte: Jch will euch ein Rind malen, da seht! Und
wir finden ein rätselhaftes Ungeheuer, ohne Hörner, mit
einer Mähne, mit Schwanzfedern und Fischslossen. Aber,
Verehrter, die Hörner —? Die sahen mir zu unästhetisch
aus; ich ließ sie deshalb weg. Aber die Mähne —?
Ja, Sie müssen doch selber zugeben, daß eine Mähne sehr
schön aussieht! Aber die Schwanzfedern —? Findcn
Sie nicht, daß der hintere Abschluß beim Rind etwas sehr
prosaisch ist? Dagegen so ein Hahnenschwcif! Aber die
Fischflossen? Sehen Sie, die zartrosa Farbe der Flossen
paßt viel besser zu dem Schwarzweiß des Felles, als das
Farbengemisch von den Rinderbeinen. Ja, Lieber, das ist
doch kein Rind mehr! Und wie, wenn uns nun der
Maler crklärte, er stehe über seinem Sujet, er könne die
Sache darstellen, wie er wolle? Nein, Dinge und
Thatsachen müssen so bleiben, wie sie sind,
oder ich empfinde fortwährende Beleidigungen meiner Wahr-
heitsliebe. Es nimmt mich der Herr Poet bei der Hand:
„Vertraut Euch meiner Leitung an; ich will Euch in eine
Welt führen, in der Jhr Eure Welt mit ihren erbärmlichen
Nichtigkeiten vergessen sollt!" Und ich vertraue mich ihm an,
-— da giebt er mir bei jcdem Schritt einen Schlag ins Genick,
damit ich nicht dorthin sehe, wo's uuschön ist. Jch will
lieber in meiner Welt bleiben und aus die Püffe verzichten.

Nun giebt es ja sehr starke Künstlerindividualitäten, die
uns — trotz aller Mißhandlung der historischen Wahrheit

— in den Bann ihres Werkes zwingen. Das kann aber
nur geschehen, wenn ich als Zuschauer resignirt mein
ganzes Geschichtswissen bei Seite werfe und dem Dichter
mit gebundenen Händen aus seinem phantastischen Fluge
folge. Jch bin mir dabei wohl bewußt, daß das vor mir
Geschehende mit dem Geschehenen keinen Zusammeuhang
hat. Das Schauspiel löst sich dann für mich von dem
Boden der Geschichte los; es wird zu einem Drama mit
frei erfundenem Stoff, in welchem der Autor den Personen

— aus Verlegenheit oder aus Arroganz — historischc
Namen gegeben hat, die dem Zuschauer einen Schein von
Wahrheit erwecken sollen, es aber nur bei Uukundigen
können. Und es liegt doch wirklich nicht in der Absicht
des Bühnenschriftstellers, jeden Historiker, jeden Kenner,
überhaupt jeden halbwegs Gebildeten von der Vorstellung
auszuschließen. Auf wie schwachen Füßen die Behauptung
ruht, daß der Dichter über der historischen Wahrheit stehe,





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