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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 10 (2. Februarheft 1894)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0166

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v. Smoluchowski deutsch herausgegebeu von Walther
Schultze. Mit einer Photogravure und t36 Jllustratiouen
von H. G. Willink u. A. (Leipzig, Duncker L Humblot, ^0,80 M.)

Ähuliche Absichten, wie sie die Verfasser des eben ange-
zeigten Buches beseelt haben, haben den deutschen Bearbeiter
des vorliegenden geleitet, eines in England als klassisch be-
trachteten Werkes. Es ist umfangreicher und tenrer, als das
vorstehende, und hat nicht so sehr den Charakter eines antho-
logischen als eines Originalwerks, immerhin freilich von
mehreren Mitarbeitern, denen sich mit seinen Anmerkungen
auch der Übersetzer zugesellt. Alles was fnr die Besteigung
der Alpen nicht nur, sondern für das Touristenwesen über-
haupt in Frage kommt, ist hier mit höchster Sachkenntnis er-
örtert, während die gnten Bilder teils zur Erläuterung dienen,
teils wie heitere Randglossen die Stimmung beim Lesen munterer
halten. Jn seiner Einleitung spricht sich der Bearbeiter über
die Frage aus: was ist es eigentlich, das uns zu Hochtouristen
macht? Und nicht so sehr im Streben nach Naturgenuß, noch
in dem Streben nach neuen Kenntnissen sucht er dafür den
Hauptgrnnd, sondern in der Reaktion anf die verzärtelnden und
verstimmenden Einflüsse unserer Knltur. „Wohl ist die Kunst,
auch wenn man sich ihr gegenüber empfangend verhält, mächtig

genng, uns über jene Anwandlung von Überdrnß nnd Unlnst
(an der Kultur) hinwegznhelfen; nur wird es, wie bei jeder
durch Kontemplation vernrsachten Wirkung, lange dauern.
Nicht anders ist es, wenn man die Natur da anfsucht, wo
man ihr nur passiv gegenübersteht: auf dem Lande odcr am
Meere. Wie anders im Hochgebirge!" Das ist unzweifelhaft
richtig empfunden: nur was wir uns selbst erarbeiten, ge-
nießen wir ganz. Aber ein Selbst-Erarbeiten ist auch der
wirkliche Kunstgenuß, der nicht nur mit dem sinnlichen Auge
genießt, sondern mitschafft mit der Phantasie. Er bringt nach
der geistigen Seite eben dasselbe Gesühl des Befreitwerdens,
dessen der Bergsteiger entzückt genießt. —

Wir wollen im Anschluß an diese Zeilen noch eines Reise-
werks gedenken, das in neuer deutscher Übersetzung vorliegt:

Reise uin die welt. Erlebnisse und Forschungen in
den Jahren ^832—^836 von Charles Darwin, deutsch von
A. Helrich. (Gießen, I. Ricker, geb. 6 M.)

Jn England ist dieses Werk des berühmten Natnrforschers
das verbreitetste von all seinen Büchern. Möge es in seiner
neuen wohl ausgestatteten und billigen Ausgabe auch bei uns
einen größeren Leserkreis unter denen finden, welchen das
Kunstgefühl aus guter Freundschaft mit der Natnr erwächst.

LprecbsaNl.

Die Traumcharakterisirnng

Hauptmanns Traumdichtnug hat sich nur geteilten Beifall
erringen können. Die Zustimmung beruht hauptsächlich darauf,
daß man wieder die tiefe Empfindung erkannte, mit welcher
der Dichter die Schattenseiten des Lebens darzustellen versteht,
daß auch dieses'Stück wieder hervorgegangen ist aus dem für
Hauptmann charakteristischen Nachfühlen der Sorgen nnd Leiden
einer geplagten Menschheit.

Was aber ist Schnld an der gegen den Schluß hin immer
mehr sich steigernden Mißstimmung? Sie bernht auf der nicht
einheitlich durchgeführten, mangelhaften Kennzeichnung des
Geschehenden als Getränmtes.

Folgen wir zur Klarlegung des wunden Punktes dem
Gange der Handlnng. Eine vielleicht etwas zu lang ansge-
sponnene Szene im Armenhause leitet ein, schildert das Milien,
macht Stimmung und bildet Folie zur krüstigen Abhebung des
Folgenden. Der Lehrer Gottwald bringt das nnglückliche
Kind, wobei einigermaßen unverstandlich ist, warum er es
nicht zu Hause bei fich behalten hat, nachdem es dort ge-
kleidet worden (S. l6.) nnd warum er es durch den Sturm
und die Kälte der Nacht weiter trägt. Nachdem der Arzt ge-
gangen und auch Schwester Martha das Zimmer einen Augen-
blick verlassen, wird das kaum sich im Bett beruhigende, er-
schreckte und geängstete Kind durch ein Traumgesicht gequält
— es erscheint ihr der Vater, rohe Worte ausstoßend, sie
bedrohend. Sie windet sich unter dem Alb, der ihre Brnst
bedrückt; es treibt sie, die nach Luft ringt, ans dem Bett,
und ohnmächtig bricht sie in der Stube zusammen. Das ist
von hoher Wirkung, die an keinem Punkte mehr erreicht wird.

Die folgende Erscheinung ist sanfterer Art: die Mutter.
Eine Änderung tritt insofern ein, als Hannele diesmal mit
der Erscheinung redet. Eine Unklarheit in bezug darauf, daß
Hannele nur im Tranm redet, wird nicht hervorgerufen. Doch
möchte ich hier eine Bemerkung machen. Jch hielte es für
feiner, wenn die kindliche Vorstellung des Jenseits (S. 39.) in
Hanneles Mund gelegt wäre. Gesetzt, ich träume, der Geist
eines Verstorbenen schildere mir das Jenseits, so ist es doch

_

(S

in ^auptmanns „Lsannele".
immer nnr meine Vorstellung des Jenseits, die ich als aus-
gesagt träume. Der Dichter legte nun in der Mutter Mund,
was Hannele als ihre eigene Vorstellung träumt. Um letzteres
auch äußerlich zu kennzeichnen, wäre es besser gewesen, die
Antworten der Mutter (auch bezüglich der „Ernährnng" im
Jenseits) als Fragen in Hanneles Mund zn legen.

Die nun folgende Erscheinung der Engel ist eine Stelle
von höchstem poetischen Dufte. Daß man wirklich so weit
gehen konnte, dem Dichter die wunderbaren Verse, in welchen
die Engel reden, als „unrealistisch" vorznwersen — was soll
man zu solchem Kunst-„verstand" sagen?

Hiermit schließt der „erste Teil" der Traumdichtnng.
Das halte ich für einen Mißgriff, dem aber leicht abznhelfen
ist. Die ganze Stimmung wird durch die eintretende Pause
vernichtet, besonders weil das Folgende so unmittelbar an die
letzte Erscheinung anknüpft. Den Traum abbrechen, um erst
nach längerer Zwischenpause das Erwachen zu schildern, wobei
es ansdrücklich heißt: „Das innere Gesicht scheint noch vor-
handen" -— das heißt den Znsammenhang, die Einheit grausam
und höchst störend zerreißen. Muß ein Abschnitt gemacht
werden, so sollte er erst nach dem nun folgenden Gespräch
Hanneles mit Schwester Martha erfolgen. Er ist aber gar
nicht nötig.

Das bisher Geäußerte betrifft nur Kleinigkeiten. Anders
steht es mit dem Rest der Dichtung. Hannele verläßt trotz
der Warnung der anwesenden Diakonissin ihr Bett. Sie ist
also wach und trüumt nicht mehr. Sie thut einige Schritte
vorwärts, schreckt dann heftig zusammen und bleibt erstarrend
in der Mitte der Stube stehen: vor ihr steht die Erscheinung
des Todes. Wir haben also eine Gesichtshalluzination im
Wachen. Dagegen ist nichts einznwenden. Wie benimmt sich
nun die anwesende Diakonissin? „Mit gefalteten Händen, an-
dächtig und demütig hat Schwester Martha dagestanden; Nun
begiebt sie sich langsam hinaus," heißt es. Sie läßt also das
kranke, halbangezogene Kind da mitten im Zimmer stehen und
geht. Nimmt denn auch sie die doch nur subjektive Gesichts-

— iss —
 
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