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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1894)
DOI Artikel:
Lier, Leonhard: Das Deutsche Drama: in den literarischen Bewegungen der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0331

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Lrstes Nugust-Dett 1S94.

21. Dett.

Lrscbeint

am Anfang und in der Mitte

Derausgeber:

zferdiuund Nuenurtus.

Kestellprels:
vierteljährlich Zt/z Mark.

7. Zadrg.

Das deutscbe Dranra

in den literariseben Vewegungen der Gegenwart.

hat in Kunstfragen noch mehr als in anderen
etwas Mißliches, sich die Welt mit den Brettern
der Theorie zu vernageln. Man setzt sich frei-
Li willig in einen Kerker oder macht sich die
Kunstwelt zu einem Polizeistaat, in dem an allen Ecken
Warnungstafeln mit dem Lekannten Rezept angebracht
sind: Dieser Weg ist kein Weg. Statt freien Blickes durch
die Fluren zu schlendern und mit frohem Behagen sich an
allen Blumen und Blüten zu erquicken, engt man sich den
Pfad mit selbstgezogenen Schranken ein und gewinnt
schließlich vor ihnen immer mehr Hochachtung, weil man
sie selbst gezogen hat. Was andere uns Lefehlen, reizt zur
Kritik, zum Widerspruch; was wir uns selbst zurecht gelegt
haben, ist, als ein Stück nnserer selbst, heilig. Der immer
noch tobende Kamps zwischen den Alten und den Modernen
auf dem Parnaß und zwischen ihren Anhangern ist im
Grunde nichts weiter als ein ästhetischer Polizeistreit, d. h.
ein Kampf mit Windmühlen, denn in Kunstdingen giebt es
nun einmal keine Polizei. Was ihre Stelle im Kampfe
der Meinungen einnimmt, ist eine persönliche Eitelkeit, die
nicht irren will, ist serner ein Gesetz der geistigen Trägheit,
das auch dem Künstler vorschreiben möchte: Ruhe ist die
erste Bürgerpslicht. Bisweilen nimmt diese Trägheit
geradezu die Gestalt der Kunstfeindlichkeit an, sie verleugnet
wohl bei dem oder jenem aus Augenblicke ihr Wesen und
umgürtet stch mit den Wafsen der Kritik. Diese Sorte
Kritik steigert sich bei der Witterung von etwas Neuem
zu einer Art Hellseherei für Schatten; sie ist aus Grund-
satz unempfänglich für alles Licht.

Wo sich schrosfe Gegensätze der Jnteressen und An-
schauungen gegenüberstehen, fragt man billig: wie stellt sich
das werdende Geschlecht zu ihnen? Steht es aus Seite
der Alten, in diesem Falle der Unduldsamen, weil bis zu
einem gewissen Grade Bedrohten? Wer sich entwickelt,
hat Freude, hat Teilnahme sür Entwicklung; er forscht
nach dem, was wird, was sich gestaltet. Und es steht
wohl die Jugend in ihrer Mehrheit den Modernen, den
Bekämpfern der Künstpolizei geneigt gegenüber. Ob diese
Thatsache für die Güte der Sache spricht oder nicht, bleibe
ununtersucht. An Gewicht aber gewinnt sie, wenn von
den Erziehern der Jugend der Freiheit der Kunstanschau-
ung, der Kunstentwicklung das Wort geredet wird. So
zurückhaltend er sich in vielen Punkten zeigt, das Verdienst
hat sich Berthold Litzmann, Professor der neueren
deutschen Literaturgeschichte, in seinen im Winter q 8 92/93
an der Universität zu Bonn gehaltenen Vorlesungen über
das deutsche Drama in den literarischen Bewegungen der
Gegenwart* erworben, seinen Hörern altehrwürdige
akademische Vorurteile aus dem Wege geräumt zu haben.
Der Freiheit des künstlerischen Strebens eine Gasse: dieses
Wort ex catlieUrn, und noch dazu der Kgl. preußischen
Universität Bonn, gesprochen, ist immerhin eine Thatsache,
die Beachtung erheischt.

Die Zahl der Beispiele dafür, daß die strenge Wissen-
schaft Zich über die Betrachtung der Literatur nach Goethes
Tod hinauswagt, ist noch sehr gering, ja es gilt in be-

*) Die Vorträge sind als Buch bei Leopold Voß in
Hamburg erschienen.


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