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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 4 (2. Novemberheft 1893)
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Rundschau
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0069

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Jndividualitäten keine Franzosen, sondern in Paris lebende
Fremde: Harrison, Thaulow, Zorn, Edelfeldt. Wie der nieder-
ländischen, so wird auch der vom reichsten Erbe zehrenden
französischen Kunst gegenüber die dentsche noch eine gute Weile


die Rolle des Parvenu spielen; aber während die Knnst an
der Seine mehr und mehr den Charakter der Dekadenze an-
nimmt, giebt es bei uns noch schlummernde Kräste zu wecken.

Alsred Freihoser.



SprecbsANl.

Buchdrama und Bühnendrama.

Ein Wort zur Berichtigung und Rechtfertigung gegen-
über den unter der angegebenen Aufschrift veröffentlichten
Aphorismen von Lanthippus werden mir die Leser des
Kunstwarts, hoffe ich, gestatten. Die Sache will's! Sie
ist von grnndlegender Bedeutung ftir Theorie und Prapis.
Buchdrama und Bühnendrama ist die Losung
der folgenden Betrachtungen. Gehüllt in das bescheiden
scheinende Mäntelchen des ästhetischen Ketzertums bricht
^anthippus eine Lanze für die —- wie er behauptet — von
den eigenen Kunstverwandten mißachteten Buch- nnd Lese-
drrmendichter. Das ist edel von ihm, und ich stehe nicht
an, mit ihm die Fülle von Talent und Können zu würdigen,
die vielc unferer höheren Zielen nachstrebenden Dramen-
dichter im Stanbe der Bibliotheken alljährlich begraben.
Aber gleich hier stutze ich und frage mich zweiselnd: ge-
schieht dieses Begräbnis ans eigenem Willen? Hängen
nicht vielmehr den meisten thatsächlich, wie Tanthippus halb
und halb zugiebt, die Trauben zu hoch, oder wenigstens,
grollen nicht die meisten Buchdramendichter der Bühne als
als einer übelwollenden Stiefmutter, die ihre eigenen böfen
Buben verhätschelt, den Kindern aber der freischaffenden
Poesie Nahrung und Pflege unbilliger Weise vorenthält?
Das Theater, wie es ist, oder deutlicher, die moderne
Kapitalistenbühne ist allerdings für die Poeten — wir
wollen damit solche bezeichnen, die es wirklich sind — kaum
noch eine Stiefmutter zu nennen; denn diefe kann wenigstens
gefetzlich zu äußerer Pslichterfüllung angehalten werden.
So gut steht es um unsere Poeten nicht, sie stehen ohne
Schutz und Schirm da und sehen sich oft nur in der
Lage, unter Entwürdigung ihres Ehrentitels, von der
Bühne eine kümmerliche Handreichung zu erfahren. Wenn
es sich aber um begriffliche Auseinandersetzungen handelt,
wie bei der Besprechung einer Dramatik, versteht es stch
wohl von felbst, daß von der verlotternden Jst-Bühne
nicht die Rede sein kann, fondern nnr von der Soll-Bühne.
An fener feiern die Routiniers Triumphe, indem sie mit
Kennerblick die Verirrungen, die fa so erfolgreich sich zeigen,
ausspähen und ausbeuten. An diese aber, an die Jdeal-
bühne und an das ideale Pnblikum, die ja Tanthippus
selbst als der Berücksichtigung wert erachtet, denken die
Poeten, und sie müssen daran denken, auch die größten
Verächter des Publikums. Gedanken zu lesen ist nicht
meine Sache, aber -— offen gestanden — an eine nennens-
werte Zahl von Dramendichtern, denen der Gedanke an
eine Aufführung niemals gekommen sein soll, bin ich nicht
kindlich genug zu glauben. Selbst diejenigen, die an die
Spitze ihrer Werke den Namen: dramatisches Gedicht
fetzen, verzichten auf die Aufführung nur, weil sie das
Theater, wie es ist, nicht als würdige Stätte ihres Werkes
anerkennen. Theater und Drama — wir reden hier wie
immer im allgemeinen Sinne — gehören zufammen, wie
Knospe und Blüte. Auf diesen innigen und notwendigen
Zufammenhang lenkt fchon ein Blick aus die Geschichte
des Dramas, das ans primitiven Aufführungen entstand

Zn Sachen: Dramatik und Theater.
und sich erst ganz spät von der Bühne, gewiß nicht zu
letzt in Folge von Überproduktion und in Folge des Rück
ganges der Bühnenkunst, loslöste. Dem klassischen Alter
tum, wie der dramatischen Dichtung der älteren Zeit aller
Völker, ist der Begriff des Buchdramas, fo weit uns Le
kannt ist, völlig fremd. Und weiter! Wir brauchen nur
die Namen Moliere, Lope, Calderon und Shakspere zu
nennen. Mit ihnen den Namen Buchdrama in einem
Atem zu sprechen, wirkt einfach lächerlich! Was fagt
Xanthippus z. B. zu Moliere, zu Shakfpere? Waren sie
nicht „Didaskalos, Direktor und Regisseur ihrer Stücke"
und hat das, wie Xanthippns es ausdrückt, „GefchLftliche
und vorwiegend Mechanische" (osfenbar doch der Bühne)
diese Dichter in kürzester Zeit „zerfasert und enthirnt?"
Was ist das für eine Auffasfung von den Kunstmitteln
der Bühne? Jch schätze sie felbst nicht allzu hoch ein,
ich bin fogar mit dem Namen Halbkunst für die Kunst
der Darstellung unter Bedingungen einverstanden; unter-
schätzt aber als vorwiegend geschäftlich und mechanisch will
ich sie nicht wissen. Mit demselben Rechte könnte man
die Kunst des Radirers und Stechers, der nach sremden
Werken arbeitet, als lediglich mechanische Arbeit bezeichnen
nnd über den Answand an Talent zu geistiger Vertiefung
und geistigem Nachschaffen mit dem Worte „Handwerker-
arbeit" zur Tagesordnung übergehen.

Tanthippus geht aber felbst in seiner Verteidignng der
Buchdramen auf einen Punkt ein, der feine Theorie nicht
von Seiten der eben angezogenen Thatsachen der geschicht-
lichen Erfahrung, fondern von Seiten eben der Theorie
in bedenklichem Lichte erscheinen läßt. Er sagt, der Epiker
fowohl wie der Lyriker wolle dasselbe, was auch nur der
Dramatiker wollen könne, lebendigen Vortrag. Der
dazu nötige Apparat könne aber durch die Suggestion der
Phantasie, die jedem gestatte, bei der Lampe Dämmerschein
fein eigener Rhapsode zu werden, ersetzt und entbehrlich
gemacht werden. Daß es sich hier jedoch nur um ein
ungleichwertiges Snrrogat, nicht um ein ebenbürtiges,
handeln kann, giebt uns ja Tanthippus selbst zu, wenn er
die Schrift als ein „ewig tranriges Surrogat der leben-
digen Menfchenfprache" bezeichnet. Nun, wenn dem fo ist
— und ich stimme hier mit Lanthippus völlig überein —
wo wird die Menschensprache lebendiger als anf der Bühne?
Die Kunst der Rhapsoden ist im Absterben begriffen, die
Kunst aber der Bühnendarstellung lebt, gleichviel in welcher
Höhe der Vollendung, sicher aber kräftiger und frischer
als die der Rhapsoden. Daß letztere darnieder liegt, sindet
seine Ursache vielleicht in eben demselben Umstande, den
wir für den Niedergang der Schaufpielkunst anziehen
möchten, nämlich darin, daß die Epiker auf die Kunst des
Vortrages so wenig Rücksicht nehmen, ja den Vortrag
nicht einmal als möglich denken. Doch zurück zu dem
lebeüdigen Vortrag für den Dramatiker, den ja selbst
Xanthippus als erstrebenswert bezeichnet! Hätte er nur
eine deutlichere Borstellung davon gegeben, was er unter



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