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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 11 (1. Märzheft 1894)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Eine grosse lyrische Form?
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0171

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Lrstes /Därz-Dett 1S94.


U. Delt.

Lrsckemi Derausgeder: KcsreUpreis:

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Line grosse l^riscke Fornr?

^ie Klagc wird oft wicdcrholt, daß dem Vccnschen
unsrer Zcit das rechtc Verständnis für kcine
Kunst mehr abhanden gekommen sei, als für
die Lyrik. Wcshalb, das ist hier vor fünf
Jahren ain Schlnffe des Aufsatzes von K. Lein (vgl.
Kw. >1, 18), wie ich glanbe, zutr'effend erörtcrt worden:
ich will hcute nicht davon sprechen. Liest man Leins
Sätze noch einnial, so wird man sich auch klar darüber
werden, wcnn nian es etwa doch noch nicht ist, weshalb
gerade das niit wirklicher Lyrik nichts gemein hat, was
in den Augen des großen Pnblikums am meisten sür Lyrik
gilt, die Wortklingelei der Rittershaus, Baumbach, Wolfs.
Wem wahre Lyrik sich einmal erschlossen hat, dem kann
sie eine Begleiterin auf allen Wegen sein, wie keine andere
Kunst. Denn keine andere kann in so wenig Worte so
den Extrakt des Lebcns zusammenpressen, wie sie. Ein
halbes Dntzend Goethischer Gedichte, Hölderlins Schicksals-
lied, je zwei, drei kleine Gedichte von Moerike, Lenau,
Keller, Storm, Greif, sie sind in unserem Gedächtnisse
schon ein Schatz, mit dem wir durch die Welt der Er-
scheinungen, Gefühle und Erfahrungen weit wandern können.
Es ist so, weil jedes Wort echter Lyrik der Kern eines
Krystalles ist, an den tausend andere ans unsrer Seele
anschießcn.

Weil sie unsere cigene Mitarbeit fordert, wie keine
andere Kunst und deshalb Ansprüche an unser Empsinden
und an unsere Phantasie stellen muß, wie keine andere,
vor allein deshalb hat die echte Lyrik ein so kleines
Publiknm, vor allem deshalb ein so besonders kleines
in unsrer Gegenwart, die auf Kosten der Phantasiebildung
die Denknüchternheit überfüttert. Aber eben deshalb, weil

wir beim Gennß der Lyrik im höchsten Maße Mitschöpfer
sind, vermittelt sie uns anch, wenn wir ihrer einmal
voll genießen, Genüsse der allerhöchsten Art Bei keiner
anderen Dichtungsweise leben wir so intensiv, so innerlich,
so innig vereint mit dem Dichter selber.

Aber in einer Beziehung scheint die Lyrik beschränkt.
Sie, welche die Stimmung des Augenblicks vertiefen
und sättigen kann, wie keine Dichtungsweise sonst, sie scheint
sür sich allein nicht im Stande, anch ein nmsangreiches
Geschehen, auch eine „Handlung" darzustellen. Man wolle
beachten, ich sage: darznstellen, denn begleitet mit
ihren Gedichten hat ja die Lyrik eine Handtung schon
oft. Wir haben seit Jahrtausenden nicht nur dramatische
Einzelszenen, sondern auch das große Drama, nicht nnr
kleine Erzählungsstücke, sondern auch das Epos — die
große lyrische Form aber, die dem Drama nnd dem
Epos entspräche, sie sehlt.

Zwar, man hat das bestritten. Es sei eigenttich, hat
man gesagt, jede gute Sammlung lyrischer Gedichte ein
nnd desselben Verfassers Vertreterin einer großen lyrischen
Form, insofern die Eigenart des Urhebers ihr die Ein-
heit schüse. Man kann das zugcben, aber in solchem Sinne
wäre jede Sammlung von guten Erzählungen oder Dramen
des nämlichen Verfassers, sozusagen, eine ganz große
epische oder dramatische Form. Man hat serner auf die
lyrischen Zyklen hingewiesen, die Goethe, Ehamisso, Kellcr,
Schefsel, Stieler, Lingg, Leizner und andere geschafsen haben.
Die Bildung des Höchsterreichbaren von großer lyrischer
Form erstreben aber diese Dichtungen, von denen
ja einige mit das Schönste der deutschen lyrischen Pro-
duktion enthalten, gar nicht. Wer die einzelnen Werke


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