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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 21 (1. Augustheft 1894)
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0343

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LprecksAAl.


R u n st ü b u n g

Wie sehr die von Herrn Rektor Ääger geäußerten
Ansichten über die Weckung des Natursinnes durch die
Schule zu begrüßen sind, welche der Kunstwart im t8.
Hefte dieses Jahrgangs mitteilt, so bleibt dabei doch ein
wesentliches Moment der Künstpflege unberücksichtigt: die
Bethätigung der Hand, ohne welche die Übung
des Auges nur eine mehr oder minder oberflächliche An-
regung des geistigen Lebens bleibt.

Es ist nämlich mit Worten leicht zu sagen: „Vom
Merken gelangen die Schüler zum Beobachten und Ver-
gleichen." Aber der Schritt vom planlosen Schauen zum
zielbewußten Merken von Richtungen, Flächenumrissen
und Flächenrundungen, von Härte oder Bildsamkeit der
Stosfe fetztVersuche voraus, die Glieder in bestimmten
Richtungen zu bewegen, Linien über gegebene Flächen zu
ziehen, Umrisse umfahrend zu ermessen, Flächen aus ge-
gebenen Stoffen zu gestalten. Das Wahrnehmen von
Richtungen, Umrissen und Gestalten erfordert ein Wieder-
erkennen früher (beim Führen des Zeichenstiftes, des
Messers oder der Scheere, beim Drücken des Thones mit
der Hand) aus eigenem Triebe vollzogener Blickbewegungen.
Nicht Worte, Klangbilder, sondern einzig aus eigenem
Triebe vollzogene Bewegungen lenken die Auf-
inerksamkeit wirklich auf räumliche Vorgänge, halten sie
an sichtbaren Formen fest. Solche Versuche, wenn auch
anfangs nur spielend gemacht, veranlassen die wirklichen
Erfahrungen, welche das Verständnis der sin n bil d li ch e n
beim Zuschauen mit Worten bezeichneten Gegenstände vor-
bereiten. Darum Letont Lange (Die künstlerische Erziehung
der deutschen Jugend, S. 53) mit Recht die Notwendig-
keit frühzeitiger Erziehung der Jugend zur Werkthätigkeit,
zum produktiven Schaffen. Das Können soll dem Kennen,
das Handeln dem Wissen gegenüber in den Vordergrund
treten. Die Berichte über das amerikanische Schulwesen
zeigen in der That, wie jenseits des Ozeans nicht nur
die Spielschule, sondern der ganze Unterricht von der
Bethätigung der Hand durch Bearbeitung der Stoffe,
durch Zeichneu und physikalisch-technische Versuche getragen ist.

Anderseitslehrendie gründlichenUntersuchungen Grosses
(in seiner Schrift „Die Anfänge der Kunst"), daß die
Jägervölker in Australien, Afrika und im Norden sich
vor den Ackerbauern in treuer Nachbildung der Tier- und
Menschengestalten auszeichnen, weil der Kampf um das
Dasein jene zwingt, ihre Beobachtungsgabe und ihre Hand-
geschicklichkeit auszubilden. Selbstthätigkeit geht also auch
in diesem Falle der Nachbildung der Naturformen voraus.

Damit bestätigt sich zugleich die Aussage des Bild-
hauers Hildebrand in seinem vortrefflichen Büchlein
über das Problem der Form in der bildenden Kunst,
daß alle Erscheinungsformen der Gegenstände nur Aus-
drucksbilder unserer räumlichen Vorstellungen
bedeuten. Jm gewöhnlichen Leben brauchen wir der
Erscheinung in unserer räumlichen Orientirung nur wenige
Anhaltspunkte zu entnehmen. So weist auch die sinn-
bildliche Mitteilung von Ansichten durch die Sprache nur
auf einzelne Merkmale der sichtbaren Gegenstände hin.

und Naturfinn.

l Wer aber nach eigener Vorstellung Linien zieht, Umrisse
feststellt, Flächen gestaltet, der verfolgt diese Linien und
Nmrisse niit dem Blicke nach ihrer ganzen Ausdehnung,
durchmißt die Flächen, den Raum nach mannigfaltigen
Richtungen, lernt die Holz-, Stein-, Metallmassen nach
ihrer inneren Beschasfenheit kennen, erfährt, wie man dieser
Beschaffenheit der Stoffe gemäß die Werkzeuge zu wählen
und zu sühren hat, um bestimmte Flächen und Flächen-
verbände herzustellen, wie solche Körperformen in jedem
der verschiedenen Stoffe sich ausnehmen. Erst wenn man
erfahren, wie Körperformen in gegebenem Stoffe durch
mechanische Bearbeitung entstehen, kann man sich vorstellen,
wie Naturformen sich organisch entwickelt haben. Aus
diesem Grunde schon muß das Naturstudium, wie Meurer
sordert, „von Anfang an in unmittelb aren
Zusammenhang mit dem Studium der Kunstformen
gebracht werden."

Und zwar soll die Kuustübung aus eigenem Triebe,
nach eigenen Vorstellungen, der Nachbildung der Natur-
formen teils vorangehen, teils sie begleiten. Denn^ nicht
auf photographische Treue, sondern auf geistiges Erfafsen
der lebendig sich entfaltenden Naturformen kommt es an.
Die Vorstellungen, die bei solcher Auffassuug des Wesent-
lichen sich entwickeln, sind sruchtbar für das Gestalten in
jedem Stoffe. Selbst sür die Naturkenntnis allein ist
ja das Naturleben der rote Faden, der durch die
Mannigfaltigkeit der Naturformen leitet.

Man wendet vielleicht ein, die Bearbeitung der Stofse
lerne man nicht in der Schule, sondern in der Werkstätte.
Es ist aber eben einseitig, Erweckung des Kunst- und
Natursinnes allein von der Schule zu erwarten. Jm
Mittelalter waren es, wie Meurer hervorhebt, die Bau-
hütten, welche den Kunst- und Natursinn in ihrem
organischen Zusammenhang pflegten, weil sie die wirkliche
Erfahrung der Handarbeit mit der sinnbildlichen Über-
lieferung vereinten. Unser Schulunterricht dagegen stützt
sich, trotz Anschauungs-, Zeichen- und Modellirübungen,
vorherrschend auf sinnbildliche Erfahrung durch Laut- und
Bildzeichen, bedarf deshalb der Ergänzung durch die
wirklichen Erfahrungen des Handfertigkeitsunterrichtes, der
Werkstattlehre und der Übungen im Laboratorium. Der
„Ausschwung des Dilettantismus in der bildenden Kunst",
von welchem der Kunstwart kürzlich berichtete, weist übrigens
darauf hin, daß der natürliche Regungstrieb, die frische
Werkthätigkeit sich der einseitigen Pflege sinnbildlicher Er-
fahrung durch Wort und Bild gegenüber mehr und mehr
Geltung verschaffen. Damit erwacht unter der vereinten
Erziehung durch Schule und Werkstätte der lebendige
Natursinn, der nicht nur in der Kenntnis der Natur-
formen besteht, sondern sich zugleich in naturgemäßer
Thätigkeit bewährt. F. Graberg?

* Der Verfasser hat diese und andere Gedanken weiter
ausgeführt und sie im Zusammenhang mit der Geschichte der
Arbeit psychologisch zu bcgründen versucht in seiner kürzlich
erschienenen Schrift „Die Erziehung in Schule und Werkstütte".

» Das deutscbe Drama tn den literariscben Wewegungen der Gegenwart. — illundscbau.

lll)(ll^ . Dichtung. Schöne Literatur. ^2. — Theater. Wichtigere Schauspiel-Ausführungen 62. — Musik.
Musik-Literatur zr. Tantismen. — Bildende Künste. Die Münchner Kunstausstellungen. Wie Bilder betrachtet sein

wollen. — Lpreebsaal. Kunstübung und Natursinu.

— ZZZ —-
 
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