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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 16 (2. Maiheft 1894)
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Verding, Götz: Volkstümliche Dramatik
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0258

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Hessen, Sachsen nnd Friesen, zum Teil nnter heftigen
Kämpfen, wobei das Heimische, auf dem die Poesie der
deutschen Stämme aufgewachsen, gewaltsam vertilgt oder
zurückgedrängt wurde." Und nun schreibt er die kalten
Worte, die ich wenigstens nicht ohne die tiefste Bewegung
lesen kann: „Wer sich in Sachsen nicht will taufen lassen,
wird getötet; wer die Toten verbrennt, anstatt sie zu be-
graben, wird geköpft; wer dem Teufel opfert, wird getötet;
wer Quellen, Bäume und Haine anbetet, zahlt hohe Buße
(OLpituIure cte pmrtt. Luxo». ?ert^, IsAZ. z, ^8—!ZO).
Begreiflich, daß sich von deutscher Poesie
fast nichts erhalten hat." -— Auf die römisch-kirch-
lichen Einflüsse folgte im Zeitalter der Kreuzzüge eine
französisch-höfische Bildung; die Poesie der Reformations-
zeit ward vom Humanismus, der Wiedergeburt der Antike,
durchsetzt; im siebzchnten und achtzehnten Jahrhundert be-
herrschten niederländische, französische, spanische, englische,
griechisch-römische (klassizistische) Muster unsre Literatur;
persische und spanische Künst diente den Romantikern, den
Schicksalsdramatikern, diente einem Grillparzer, einem
Rückert und Platen zum Borbild, und hentzutage regieren

Franzosen, Russen und Skandinavier. Zwischen all diesen
Einslüssen erhebt sich in der stausischen Epoche eine höfisch-
nationale Ritterdichtung, im Reformationszeitalter eine eiu i
heitliche, volksmäßige Poesie, in der Friederizianischen Zeit
eine klassisch-nationale Kunst, aber alle gehen ebenso schnell,
wie sie entstanden, zu Grunde; die Bildung einer sesten,
gegen außen abgeschlossenen Überlieferung vereitelt die
Fremdsucht der Deutschen ebenso sehr, wie die Fremdherr
schaft in ihrcm zerrissenen Vaterlande während ihrer ganzen
neueren Geschichte. All dem ist durch die Gründung des
Nationalstaates der Boden entzogen, und die geistige Ab
hängigkeit der Deutschen vom Auslande hat in ihrer Er-
bärmlichkeit keine Entschuldigung mehr.

Jch kann hier abbrechen. Den Geist, die Stofse und
die Formen einer Nationalpoesie, insbesondere einer volks
tümlichen Dramatik, wünschte ich zu kennzeichnen. Biel
leicht sehen freiblickende deutsche Dichter cin, daß es in der
Epoche eines Bickmarck noch etwas Gewaltigcres für sie zu
thun giebt, als mit verbitterter naturalistischer Sittenschil
dernng die Knechte des Auslands zn werden.

Götz Verdtng.

Dicbtung. Ikundscbau.

» Scböne Ltleratnr. 37.

DieBeichte des Narren. Roman von M. G. Conrad.
(Leipzig, Wilhelm Friedrich, 6 M.)

Das eigentümliche Buch, das Conrad bezeichnet als eineu
Teil des allerdings sehr locker zusammenhängenden Romanzyklus
„Was die Jsar rauscht", giebt uns die tagebuchartigen Auf-
zeichnungen und Selbstgespräche eines in größter Dürftigkeit
lebenden Adligen, der körperlich degenerirt und geisteskrank
ist. Das Bewußtsein seiner adligen Geburt spukt ihm in
eigentümlich tragischem Gegensatze, zu seinen Verhältnissen im
Kopf und im Herzen, die einer im Grunde auch seelisch nobeln
Natur angehören; er fühlt sich unendlich überlegen der gemeineu
Welt von „Schlammbeißern", die ihn umgiebt, und leidet schwer
unter der Macht dieser Welt, mit der er sortwährend Kom-
promisse abschließen muß, um nicht gar zu sehr gedemütigt zu
werden. Als er endlich aus seinem Elend herauskommen
könnte, als er erbt, „frißt der Wahnsinn Erbe und Sieg"; der
Baron endet in der Jsar.

Jch habe angedeutet, weshalb das Buch mehr ist als eine
psychiatrische Studie. Dort, wo der Versasser deu Konflikt
zwischen einer zum Wahnsinn eutarteten, vornehmen Em-
pfindungsweise und der verstandesgesunden nüchternen Niedrig-
keit schildert, erreicht er Wirkungen, denen ich die Bezeichnung
„dichterisch" trotz all des Pathologischen keinesfalls absprechen
möchte. Nun hat Conrad die Ergüsse des Jrreu auch zu einer
Menge von satirischen Ausfälleu wieder allerlei Zeitgeschichtliches
und Zeitgeistiges benützt. Uud sicherlich hat ein Satiriker das
gute Recht, wie sonst den Kindermund oder den Mund des
Hanswurstes mit der Pritsche, einmal auch den des echten Narren
zum Vermittler seiner Aussälle zu nehmen. Schildert er aber
dann wieder den Narren ganz realistisch als Kranken, so kann
in sein Werk leicht eine bedenkliche Zwiespältigkeit kommen.
Conrad ist der Gefahr an einigen Stellen nicht entgangen;
die bittern Wahrheiten auf S. tsz und den solgenden z. B.
rutschen ein wenig aus dem Stil. Jm Allgemeinen aber hat

er die Klippe mit überraschendem Geschick umschifit. Seiu
Buch wird nur sür wenige Leute genießbar sein, aber diese
wenigen steheu unter deu Lesern sicherlich nicht am tiefsten.

Der Rastl vom Hollerbräu. Von R. v. Seydlitz.
(München, vr. E. Albert Co.)

Aus dem sröhlichen Frankenland kommt er hergewandert,
„leicht im Kopf und schwer in Gliedern", der junge Bursch
Kastulus Hegebart, „um München zu erobern", denn ein
Mordskerl von Brauer will er dort werden, auf den sogar die
Münchner stolz sein sollen. Die Eroberung beginnt auf be-
sondere Weise: der Bursch vom Lande wird zunächst vom
Schicksal in Gestalt einer leichtfertigen Dirne schwer gerupft.
Als er glücklich die uiedrigste Sprosse auf der Brauerleiter
gesunden hat und „Haberfelder" geworden ist, wird ihm beim
Faßwaschen in der Brauerei des Herru Eberlein auch noch
nicht eroberisch zu Mute. Aber sein Oheim, der Buchhalter
Ringelmann, hilst ihm weiter, und dann sein gutes Glück und
dann seiner Hände und seines Kopfes tüchtiges Geschick; wenn
ihu das Leben hier hiuunterdrückt, so hebt es ihn dort auch
wieder ein Stück in die Höhe, und je länger je mehr bethätigt
es sich auf die angenehmere Art. Schlimme Ersahrungen macht
der Kastl in Liebessachen, und was für andere ein schnell
vergessenes Erlebnis gewesen würe, gräbt sich in seine schlichte,
gesunde Kernnatur tief ein. Ernste Lehre trägt er auch aus
dem Verkehr mit seiuem Onkel heim, einem Menschen, dessen
seltsam aus gut und schlecht gemischteu Charakter uns der
Verfasser anschaulich glaubhast gemacht hat. Und so schmiedet
das Leben allmählich seine Wesen fest. Er ist uicht nur ein
„gemachter Mann", als wir ihn verlassen, sondern auch ein
„gewordener Mensch", ein reiser uud tüchtiger, der nunmehrige
Brauereidirektor Hegebart.

Seydlitz hat sich bemüht, aüf kleinerem, aber noch nicht
kleinem Gebiete zu geben, was Zola uns sür Paris wiederholt
gegeben hat: die eingehende Schilderung eines bestimmten
Lebenskreises. „Die Münchner Brauwelt" heißt das „Milieu",


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