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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 3 (1. Novemberheft 1893)
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Rundschau
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0050

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Roll, einer der ersten Leute von Champ de Mars, malt
eine Reihe Pastellbilder, alles weibliche Mvdellstndien, deren
verschiedene Stellung ihn interessirt; er übt daran eine
gewisse breite Manier des Stiftes, eine sichere, kühne Vor-
tragsweise, die ein großer Teil der modernen Kunst dem
Pastell überhaupt verdankt. Aber das Kind muß einen
Namen haben, und er nennt die Studien, gewiß nicht ohne
Esprit: Bourgeoisie, Valse, Fatalite, Honte und Chair.
Niemals hat er aus den Themen seine Bilder geschasfen;
sie sind nicht mehr als all die hundert Nacktheiten, an
denen sich der Pariser formfreudige Künstler nicht satt
arbeiten kann nnd für die er cin ganzes Lager von Bei-
wörtern aus den Gebieten der Allegorie und des Genres
zur Verfügung hat.

Seine Beiwörter müssen unsere Hauptwörter werden.
Den Schatz an technischen Erfahrungen, den wir auf-
gesammelt habeu, wollen wir nicht fallen lassen, wenn er
auch nun cinmal aus der Fremde zu uns gekommen ist.
Denn diese Technik hat die moderne Kunst auf eine neue
Grundlage gestellt. Aber wir wollen nun unsern Weg
allein weiter suchen. Wir wollen in uns gehen, wollen
uns so recht wohl fühlen in dem Strome unseres reichen
Jnnenlebens, wollen hieraus schöpfen, hiermit beginnen und
hiermit enden. Unsere großen Künstler waren alle ein
Stück Dichter, ob sie nun daneben auch geschrieben haben
oder nicht. Sie waren ein bischen ungeschickt in äußeren,
in technischen Dingen, und diese Ungeschicklichkeit stand
ihnen ganz gut. Sie bezauberten durch die Tiefe ihrer
Seele, durch die Wärme ihrer Empfindung, durch die
Schlichtheit ihres Charakters. Sie waren Menschen und
ganze Künstler in erster Linie, in zweiter erst Techniker
einer bestimmten Gattung. Das Dichterische, das Gedank-
liche sogar gab ihren Werken den deutschen Stempel. Sie
kamen von allgemein künstlerischen Jdee zur besonderen
Kunst. Sie brachten aus ihrem reicheu Junern etwas
Fremdes 'in die absolute Technik hinein, etwas Dichterisches
in die Musik, etwas Gedankliches in die Malerei, aber
gerade dieses Fremde war ihre Größe. Sie haben nie-
mals eine so strenge Schule gehabt, wie der Pariser, sie
brachten immer eine Unze Dilettantismus zu ihrer Knnst,
aber dieser Dilettantismus, diese Schulverspottung machte
sie zu Genies.

Jn diesen Zügen malt sich mir daß Bild unseres
deutschen Künstlers, der jetzt den Faden aufnehmen soll,
nachdem England mit Frankreich ihn bis hieher gesponnen.
Er ist nun berusen, den ganzen tiesen Jnhalt eines deutschen
Künstlergemüts in die Form zu gießen, die wir für die
Kunst der Zukunft fertig gestellt haben. Nicht ganz, meine
ich, daß er mit Thoma wird nötig haben, die Weise
Dürers, die technisch unserer Zeit fremd ist, uochmals zu

beleben, oder mit Gebhardt auf Holbeinsche scharfe Physiog-
nomik zurückzugehen, oder mit Trübner sich an Schottland
anzulehnen. Nein, technisch muß er modern, ganz und
gar modern sein. Nicht umsonst haben wir um die Mitte
des Jahrhunderts unseren neuen Bund mit der Natur
geschlossen. Aber mit der modernen Technik muß er nicht
Franzosennachahmer bleiben wollen, sondern nun erst recht
ein Deutscher werdeu. Es mag sein, daß Uhdes und
Klingers Name einst an der Spitze dieser Ruhmestasel
neudeutscher Kunst prangen werden. Da wird die Rede
sein von den wunderbar sinnigen Gedanken, die modern
gefühlt und modern gemalt, zur Aussprache kamen. Von
der überreichen Stimmung, die in den Landschaften, den
Zimmerbildern lebte. Von der Größe im Gefühlsaus-
druck und der Wahrheit der Empsindung, die das Volk
tief ergriff. Auch von der blühenden Phantastik, die in
cigenartigen Gebilden, nur der modernen Technik ihre
Existenz verdankend, über die Gemälde huschte, halb neckisch,
halb mystisch, ein ganzes märchenhaftes Elfenreich, das
lange im Busen des Volkes ruhte, bis es zur Auferstchung
gerufen wurde. Und nicht am wenigsten auch von dcm
töstlichsten Gute der Welt, das die tiefste Tragik über-
windet, ohne sie zu verachten, das uns auf die philosophische
Höhe der Entsagung erhebt, ohne von der guten Erde uns
zn trennen, das uns anlächelt, indem es uns Weisheiten
lehrt, und uns iunerlich sättigt, indem es mit uns tollt
und springt. Den Humor meine ich, den echten, der aus
dem von Lebenserfahrungen geprüften Herzen springt,
unsern schönsten Besitz. Dann wird man die technische
Zeit der modernen Kunst, die Pariser, vergessen vor der
höheren Leistung der deutschen, die ihr erst den Jnhalt
gegeben."

Unser Bekenner schließt: „Gehen wir mutig ans Werk.
Die Mission der Techniker, der Beobachter ist erfüllt.
Das Letzte, das Höchste haben sie nicht gegeben. Die
Kunst der Jnnerlichkeit ist unser Beruf, und Niemandes
Wettbcwerb haben wir hier zu fürchten, da Niemand ein
Gemüt hat, so reich, so tief, so warm, wie das unsere.
Die Geschichte hat's bewiesen, und sie wird es wieder
beweisen."

Das ist schön und gut. Aber wo hat unser Maler
seine Augen, wenn er nicht sieht, daß das von ihm Er-
strcbte schon von einem großen Teil des sungen Künstler-
geschlcchts neben ihm erstrebt wird? Wir stehen mitten
darin in der Entwicklung, die er wünscht. Hüten wir uns
vor der Gefahr, durch Geringschätznng der technischeu
Fortschritte in der Ansbildung unsrer Ausdrucksmittel zurück-
zubleiben, aus daß wir stets die Sprache in der Gcwalt
haben, eindringlich „sagen" zu tönnen, „was wir leiden"
— und wir dürfen der Zukunft hier auf das freudigstc
entgegensehn.


L-ose Mätter

x Lindaus Stück „Der Andere" ist jetzt vou einem her-
vorragenden Nervenpathologen und Psychiater aus seinen Wahr-
heitsgehalt untersucht wordeu. Der Gelehrte schreibt darüber:
„Der Staatsanwalt Haller ist zum Verbrecher geworden, er
ist Staatsanwalt uud Verbrecher in einer Person, ohne es zu
wissen, sein Jch ist geteilt, sein staatsanwaltliches Jch weiß
nur von seiner Thätigkeit als Staatsanwalt, sein Verbrecher-
Jch nur von seinem verbrecherischen Thun. Fragen wir uns,
ob ein solcher Zustand wirklich echt sei, wirklich vorkomme,

^-

vorkommen könne, so müssen wir uns entschieden sagen: Nein.
Das Geschilderte ist mindestens eine Übertreibung; weder Hyp-
nose noch Suggestion noch epileptoide Zustände werden sür
sich allein solches zu stande bringen. Die Hypnose würde
einen Hypnotiseur zur Voraussetzung haben, der dem Staats-
anwalt solche Handlungen mit Erfolg eingiebt; jeder Staats-
anwalt aber würde eincr solchen Suggestion Widerstand leisten
und sie durch Gegen-Suggestion unwirksam machen. An die
Möglichkeit, daß ein Staatsanwalt durch Selbst-Suggestion zu

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