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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1894)
DOI Artikel:
Die Erweckung des Natursinns
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0283

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1S. Dett.

Lrscbetnt

Iberausgeber:

Ferdtnund Nvennrius.

Kesrellpreis!
Vierteljährlich 2 1/2 Nlark.

7. Zabrg.

Me Lrweckung

s ist kein vertrautes Verhältnis zur Kunst denkbar
ohne ein vertrautes Verhältnis zur Natur; jede
rechte Kunst ist Ausfluß der Natur; was wir
mit dem Kunstwerk genießen, ist nichts anderes
als eben ein Stück der Natur ^—- der Natur im Gegen-
stand und der in der schaffenden Künstlerperfönlichkeit. Die
Zeiten find vorbei, in denen die Kunst als ein dem Leben
fremdes Wefen betrachtet wurde, das für sich allein herum-
spuken könne, wie ein Gespenst; wir wisfen jetzt, daß sie
wie die Seele in den lebendigen Leibern wohnt, daß sie in
allem steckt, was da atmet. —- Es sragt sich nur, ob wir's
verstehen, diese Seele durch die Körper hindurch zu erkennen
und ihrer zu genießen. Daß aber dieses uns Hansen gar
häufig so sauer wird, liegt daran, daß wir's nicht gelernt
haben, als wir noch Hänschen waren.

Jn den Süddeutschen Blättern für höhere Unterrichts-
austalten hat kürzlich O. Jäger, der Rektor der Realschule
von Kannstatt, eine Arbeit über „Kunst- und Natursinn in
der Schule" niedergelegt. Sie bringt wieder ein hoch-
erfreuliches Zeugnis dafür, daß die führenden Köpfe unseres
Lehrerstandes mit der Auffaffung der Schule als einer
bloßen Keuntnis - Verfütterungsanstalt von Grund aus
gebrochen haben. Schou sein erster Satz bezeugt das
schlagend: „es ist ein außerordentlich wichtiger Fortschritt
im Schulwesen, daß die neueren pädagogischen Bestrebungen
mehr Wert auf Dinge legen, die man als pädagogische
Jmponderabilien bezeichnen könnte und die das gemeinschaft-
liche Merkmal haben, daß sich in ihnen nicht examiniren läßt."
Jn seinen Sätzen über die Pflege des Natursinns in der
Schule zeigt sich dann Jäger so vertraut mit der heutigen
Psychologie sowohl wie mit den in Frage kommenden

^-

des Oatursinns.

Strebungen und Wünschen unseres heutigen Menschen-
geschlechts, daß wir das Wesentlichste seiner Gedanken den
Lesern des Kunstwarts hier kurz skizziren dürfen.

Zwischen den Aufgaben der Mittel- und der Hoch-
schulen ist ein wesentlicher Unterschied der, daß die Hoch-
schulen mit den Seelenkräften als mit fertigen Größen
rechnen können, die Mittelschulen aber ihre Methoden
stets an das allmähliche Erwachen und an die Entwicklung
dieser Seelenkräfte anlehnen müsfen. Weit eher nun als
der Schönheitssinn regt sich im Kinde die Teilnahme an
den Gegenständen und besonders an den Vorgängen in der
Natur. Behandelt der Lehrer diese im Unterricht so, daß
er wirklich sinnliche Wahrnehmungen vermittelt, so kann er
sehr frühe schon auf die Aufmerksamkeit feiner Schüler rechnen.

Leitet er dann den „Zug zur Natur" richtig, so gewinnt
das Kind nach verschiedenen Seiten hin. Es bildet sich
in ihm die Wahrnehmung aus, aus diese folgt das
eigene Beobachten, und aus dem Beobachten entspringt
das Vergleichen. Damit ist denn in formaler Beziehung
sowohl der späteren naturwissenschaftlichen wie der
ästhetischen Betrachtung die Grundlage gegeben; eine
Sonderung tritt auf der Unterstufe noch nicht ein. Außer
diesem formalen Vorzug bietet die frühzeitige Beschäftigung
der Schüler mit der Natur aber auch noch den, „daß
die Kinderseele materiell mit einer Fülle von Ein-
drücken bereichert wird, die wenigstens in dieser Frische
später kaum noch möglich sind, die daher sür das ganze
Leben einen wahren Schatz bilden und m den Jahren,
in welchen auch auf dem Gebiete der Kunst die Reflepion
über das Gesühl die Oberhand gewinnt, vor Hohlheit und
Unwahrheit der künstlerischen Empfinduug schützen."
 
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