Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI issue:
Heft 13 (1. Aprilheft 1894)
DOI article:
Schöne Kleider
DOI article:
Rundschau
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0206

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
den Abstand zwischen den Berkehrenden iunuer wieder in
Erinnerung bringen. Und so spielen anch bei uns die
letzten Reste der Klassentrachten, die Unisormen und Amts-
kleider im gesellschaftlichen Verkehr eine Rolle; am meisten
natürlich dort, wo der „kriegerische Typus" noch am
starksten ausgeprägt ist: in Hof- und Ofsizierskreisen. Ju
Fraukreich hingegen äußert sich der fortgeschrittene „industrielle
Typus" auch iu dieseu Kleinigkeiten. Wie man Titulaturen
uicht kennt, sondern Jedermann mit „Monsieur" anredetz
so kommt es auch mehr und mehr ab, Uniform in Gesell-
schaft zu tragen —- in engereu Kreisen gilt es schou als
eine geschmacklose Prahlereh dies zu thun. Ubrigens finden
sich auch in Deutschland gewisse Spuren einer ähnlichen
Entwickelung. Die Herren Forstassessoreu oder Postbeamten
geben dem Frack bedenklich ost den Vorzug, und nur die
Militäruuiform herrscht noch unumschränkt im Ball-
saal, „des Kaisers Rock", der dem Befehl znfolge überall
zu tragen ist, wo das nur irgend angeht, und den auch
die Eitelkeit zu tragen rät, weil er die Tracht des höchst-
geschätzten Staudes ist. Auf die Dauer wird sich freilich
auch in Deutschland nicht jene gesellschaftliche Entwicklung
aufhalten lasfen, die wir bei anderen Kulturstaaten beobachten,
ganz abgesehen davon, daß Rücksichten auf Brauchbarkeit
im Kriege dahin drängeu, die Uuiformen weniger auffällig
zu gestalten, ihre goldschimmernden Zierrate und damit
ein Motiv ihres Tragens zu beseitigen.

Jch sagte, daß die Abnahme äußerer Klassenabzeichen
und das damit im Zusammenhang stehende Verschwinden
difserenzirter Trachten eine Folge der notwendig sich voll-

ziehenden Demokratisirung der Gesellschaft sei. Mau ist
dabei geneigt, dieses Gleichheitsstreben in den Formen und
Sitten des Verkehrs lediglich anf den Einslnß der unteren
Volksschichten zurückzuführen, auf ihr wachsendes Selbst-
bewußtsein, ihr erstarkendes Machtgesühl, ihreu Neid und
Nachahmungstrieb, es den Vornehmereu gleich zu thun.
Aber es entspricht ebenso dem verfeinerten sittlichen Em-
pfinden der gebildeten Kreise. Die starke Persönlichkeit,
die sich ihres geistigen und moralischen Ubergewichtes be-
wußt ist, will uicht mehr durch äußerliche Mittel, durch
erzwungenes Zeremouiell, dnrch Abzeichen und Trachteu
Ansehen erzwingen; sie weiß sich durch geistigere Mittel
Geltung zu verschasfen. Die gute Sitte verpönt es ferner,
im Berkehr mit Rang, Reichtum, Schönheit zu prahlen,
wie es die antiken Helden unbefangen thaten. Widersteht
es aber dem feineren Empfinden, mit Worten zu sagen:
„ich din besser als Du, reicher, vornehmer, schöner", so
ist es nur folgerecht, wenn man auch vermeidet, es durch
Kleider ununterbrochen zum Ausdruck zu bringen. Das
ist die ethische Seite von der Gleichmacherei in den Sitten
des Verkehrs und den Formen der Kleidung.

Es ist zwecklos, notwendig sich vollziehende Erschein-
ungen im Völkerleben durch einseitige Theoretifirerei herab-
zusetzen. Wenn man vollends einer Entwickelung im Großen
und Ganzeu zustimmt, so muß man auch alle ihre Be-
gleiterscheinungen in den Kauf nehmeu. Vom ästhetischen
Standpunkte mag man die nüchterne Eintönigkeit unserer
Tracht beklagen: ihre Gründe und damit sie selbst be-
seitigen zu wollen, wird keinem Verständigen beifallen.

Lbtb.


DiclUung, Ikundscbau.

* Lcböue Litcratur. 34.

Mysterien. Roman von Knut Hamsun. Autorisirte
Übersetzung von M. von Lorch. (Köln, Albert Langen.)

Das vorliegende Buch verdient unsere besondere Beachtung.
Denn es bezeichnet vielleicht die äußerste Spitze, bis zn der
eine wichtige Abzweigung der modernen Literatnr sich verfeinert
hat/die auch in Deutschland an Trieben reich ist.

Jn ein norwegisches Küstenstadtchen kommt plötzlich ein
Fremder zugereist, der dort „bis aus Weiteres" bleibt, in anf-
fallender Tracht herumlänst, Händel im Bösen und anch im
Guten anfängt, sich nach den verschiedensten Richtungen sonder-
bar benimmt und schließlich verschwindet. Er, Johann Nilsen
Nagel, ist es, dessen tranriges Geschick uns Hamsun schildert.

Bereits beim Beginn des Buches lernen wir Nagel als einen
Menschen von höchster nervöser Reizbarkeit kennen, über den
schon gelegentlich die Schatten des Wahnsinns huschen. Merkmale
des Hysterischen begegnen uns. Ein Hang, sich anders zu geben,
als man ist. Eine gewisse Eitelkeit, die zu dem eigentlichen
Wesen einer so hochstehenden Natur im Gegensatze steht und
gelegentlich auch so empsunden und dann wie gewaltsam durch
abweichendes Benehmen verletzt wird. Ein sprunghafter Wechsel
der Neigungen und der Stimmungen zwischen Frohsinn und
Trauer, zwischen Gleichgiltigkeit und lebendigster Teilnahme,
„Exzentrizität" überhaupt. Dabei außerordentliche Klugheit,
tiefe Güte und jene üußerste Verfeinerung allen Empfindens,

die durch alle Umhüllungen hindurch das Wesen der Dinge
schon ahnen lüßt, ehe der Berstand das kleinste Merkmal ge-
snnden hat, das Gefühl zu motiviren. Leidenschaftlicher Drang
nach Einsamkeit, znmal nach der Einsamkeit einer stillen Natur,
und im Kampfe damit doch wieder das Bedürfnis, als Mensch
unter Menschen zu gehen und auf sie zu wirken.

Dieser kranke Mann also kommt in Berührung mit den
gebildeten Honoratioren einer Kleinstadt. Die nehmen ihn
sreundlich aus; ist er doch unterhaltend und bringt er doch
einige Abwechslung in ihr Einerlei. Was sie sonst noch an
ihm interessirt, sind natürlich die Fragen, um die sich der
Klatsch zu drehen pflegt: was ist er? wieviel hat er? was
macht er? woher kommt er? usw., — aber nicht sind es die
Akkorde und Dissonanzen seines Jnnern, über die der Gesell-
schaft des Städtchens das Gesamturteil „verrückt" vollkommen
genügt. Eine von diesen Leuten ist die schöne Pfarrerstochter
Dagny Kielland. Und in sie verliebt sich Nagel, hin- nnd
hergeworfen zwar auch hier von widerstreitenden Gefühlen, da
er dann und wann die wahre Gestalt dieses Dnrchschnitts-
mädchens hinter dem engelhaften Gebilde schimmern sieht, das
seine eigene Phantasie ans ihm gemacht hat. Jhr, deren
Bräutigam in der Ferne weilt, ist die neue Huldigung nicht
unwillkommen und sie ermuntert sie sogar halb unbewußt,
indem sie die diesen Mann „Verstehende" spielt, so lange er sich
innerhalb des „Korrekten" hält. Als dies durchbrochen wird,
 
Annotationen