ist es freilich mit dem Verhältnis aus. Und auch mit Nagels
Selbsttäuschung ist es nun aus. Aber er sühlt auch, daß seine
Seele uutergeht, wenn sie sich nicht irgendwo verankert, und
so wirbt er um Martha, ein gutes, armes, älteres Mädchen.
Doch nun äußert sich die verletzte Eitelkeit Dagnys, wie das
ihrer kleinen Seele entspricht; sie demütigt Nagel öffentlich,
sie veranlaßt Martha, sich von ihm loszusagen. Selbst den
Tod muß der Arme, der nun unverkennbar wahnsinnig wird,
zweimal suchen, bis er Ruhe findet.
Fast Alles, was wir in diesem Buche sehen (und es sind
auch noch viele Gestalten darnnter, die hier nur zu erwähnen
schon zu weit führte), sehen wir durch das Medium Nagels
sehen wir durch die Augen der Hauptperson. Giebt uns ein
objektiver Dichter ein Weltbild, wie es ihm erscheint, so giebt
uns Hamsun zunächst ein solches, wie cs der Person erscheint,
die ihm die wichtigste und der eigentliche Stoff seines Werkes
ist. N:.n hat auch dieser äußerste Subjektivismns seine großen
Borzüge, denn wir werden durch ihn in die Seele des Helden
mit einer Eindringlichkeit versetzt, die in der That keine andere
Technik annähernd so erreichen kann. Wir sehen auch darin
keinen Grnnd zum Vorwurf, daß unter einem Tansend selbst
wirklich gebildeter Leser wenigstens in Dentschland vorläufig
nicht zehn jene Beweglichkeit der Phantasie besitzen dürften,
die dazu gehört, sich sortwährend in eine sremde Seele zu
versetzen. Das lernt sich mit der Übnng; schon in einem
Jahrzehnt würde die Hälste von denen, die hent Hamsnns
Buch ununterbrochen zum Sterben langweilt, den Sinn sür
seine Feinheiten gewonnen haben.
Was der Versasser an seelischer Kleinmalerei leistet, scheint
mir schlichtweg bewunderungswürdig in seiner Art. Aber ich
habe auch an mir eine Beobachtung gemacht, die zu denken
giebt: die ersten Sätze der Schilderung eines neuen Seelen-
zustandes oder einer neuen seelischen Entwicklung las ich stets
mit höchstem Jnteresse, in der Fortsetzung aber befiel auch
mich leicht eine gewisse Ermüdung. Jch glaube, das liegt
daran, daß die einzelnen kennzeichnenden Dreh- und Wende-
punkte der seelischen Bewegung uns doch lange nicht so
wichtig sind, wie eben diese Bewegung als solche — werden
wir gezwungen, zu lange auf diesen Punkten zu verweilen, so
ist das, wie wenn wir eine lebendige Bewegnng durch die
Momentphotographie in die einzelnen Stadien zerlegt sehen:
erst der Schnellseher, der Alles verbindet, brächte in die Sache
wieder Leben. Was wir hier brauchten, würe eine ganz kurze
schlagende Charakteristik der wichtigsten Bewegungspunkte. Und
nun, so überraschend es klingen mag, so wahr ist es doch:
kurz und schlagend Seelenzustände charakterisiren kann keine
Dichtungsweise so gut wie Lyrik. Wir sind uns Ler unge-
heuren Entwicklungssähigkeit der Lyrik gerade nach dieser
Richtung hin noch gar nicht bewußt; wir haben bis jetzt kaum
die Ansänge jener psychologischen Lyrik, mit der auch der
Lyriker, wie das auf seine Weise der Epiker und der Drama-
tiker thut, sremden Seelen in ihre dunkelsten Tiefen leuchten
könnte. Wir kennen sie kaum, wenngleich uns schon diese
Thatsache aus sie hinweisen sollte: daß gerade die Charakteristik
des Dramatikers, wo sie entsprechende Höhepunkte einer
inneren Handlung zu schildern hat, sehr ost ganz unwill-
kürlich in lyrische Behandlungsweise nmschlägt. Ein Stoff
wie diese „Mysterien" verlangte, glanb ich, der von uns kürz-
lich besprochenen großen lyrischen Form, um wenigstens
künstlerisch völlig besriedigend behandelt zu werden.
Das sreilich ist ja richtig, daß ein so zu sagen „allgemein-
giltiges" dichterisches Gebild überhaupt nicht aus ihm ent-
stehen könnte. Nicht deshalb, weil der Held der Geschichte
geistig krank ist; wir wissen es ja aus der Literaturgeschichte,
4-
daß gerade über die ergreifendsten Dichtungen der Wahnsinn
blicken kann. Aber wir sehen dann, w i e aus gesunden Menschen,
wie aus Lear, Ophelia, Gretchen Wahnsinnige werden. Der
Held der „Mysterien" jedoch hat bereits bei seinem Auftreten das
Leiden im Gehirn. Möglich, Laß seine geistige Krebskrankheit
unter anderen Verhältnissen nicht znr vollen Entwicklung ge-
kommen wäre, aber ohne dieses Krankhafte in Nagel hätten
ihn auch diese Reibungen mit der Philisterwelt nicht zerrüttet,
ja, sie wären dann gar nicht möglich gewesen in solchem Maße;
den Doktor Stockmann im „Volksfeind" machen entsprechende
Erfahrungen erst recht gesund. Damit fällt sür die meisten
Leser jenes menschliche Nahgefühl zum Helden weg, das aus
dem nnbewußten Empfinden erwächst: auch mir selber könnte
es so ergehen. Selbstverstündlich aber schließt diese Be-
schränknng der Wirkung keineswegs einen Vorwurf gegen den
Dichter in sich. Wer an seinem Mitmenschen recht teilzunehmen
vermag, auch ohne daß geheime Beziehungen anf seine eigene
Person mitspielten, den wird ein derartiges' Werk ergreifen
können, und wäre es nur, weil es ihn die eine oder andere
leidende Seele besser zu verstehen lehrte. A.
Gesammelte werke von ksossmann von Fallers-
leben. Herausgegeben von vr. Heinrich Gerstenberg.
8 Bände. (Berlin, F. Fontane K Co., t890—9-4.)
Was Hoffmann von Fallersleben selbst in seinen letzten
Lebensjahrett angestrebt hatte, das haben jetzt Erben und Ver-
ehrer des Dichters in liebevoller Sorgsamkeit zur Ausführung
gebracht: eine Sammlung seiner poetischen Werke. Sechs
starke Bände süllen die Gedichte Hoffmanns; ihnen ist seine
Autobiographie „Mein Leben" angeschlossen.
Als ein rechter Liederdichter ist Hoffmann heute wohl all-
gemein anerkannt. Diese Anschanung wird uns nnr aufs Neue
bestätigt, wenn wir hier zum ersten Mal die Gesamtheit seiner
Gedichte bei einander sehen und überblicken. Freilich: nicht
alles, was sich da in den sechs Bänden findet — es mögen
an zooo Gedichte sein! — besitzt Wert und Bedeutung. Manches
Lied ist sarblos, wässerig, nichtssagend; aber dem steht eine
andere Reihe lyrischer Schöpfungen gegenüber, die zu dem
Besten gehören, was die deutsche Dichtung an sangbaren Liedern
hervorgebracht hat. Und das sicherste Kennzeichen sür Hoff-
manns Bedeutung ist:.seine Lieder leben in der That, leben
in unserem Volke, werden gesungen, oft ohne daß man ihren
Versasser beim Namen kennt. Das ist ja auch gerade das,
was dieser sich gewünscht hat; die große Masse des
Volkes, die naive, frisch-empfängliche, hat er stets als sein
Hauptpublikum vor Augen gehabt. Daher die Einsachheit des
gedankkichen Jnhalts, die Klarheit der Sprache und Metrik',
der leichte gesangliche Rhythmus in allen seinen Gedichten!
Denn gesungen vor allem sollten seine Lieder werden, gesungen
draußen in der sreien Natur, nicht gelesen in enger Stube
durch das Glas einer gelehrten Brille. „Meine ganze Poesie
ist reine Lyrik und dazu eine rein deutsche und will auch
weiter nichts sein, unzertrennlich vom Gesang." Noch gefördert
wird die Verbreitung von Hoffmanns Gedichten durch den
Grundton, der in ihnen allen kräftig durchklingt: die Vater-
landsliebe — sie sind „rein deutsch". Jst doch Hoffmanns
bekannteste Schöpsung unsere zweite Nationalhymne geworden:
„Deutschland, Deutschland über Alles." Und Hoffmann ist der
Sänger der Lieder: „Treue Liebe bis zum Grabe schwör ich
Dir mit Herz und Hand . . ." und „Zwischen Frankreich und
dem Böhmerwald . . ." Neben dem Vaterland gelten seine
Verse der Liebe, dem Frühling, der Heimat, dem Wandern —
alles Stoffe, die jeder nnserer bedeutenden volkstümlichen
Lyriker behandelt hat. Fast einzig in ihrer Art sind dagegen
Hoffmanns Kinderlieder, die mit ihrer reizenden Naivität und
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Selbsttäuschung ist es nun aus. Aber er sühlt auch, daß seine
Seele uutergeht, wenn sie sich nicht irgendwo verankert, und
so wirbt er um Martha, ein gutes, armes, älteres Mädchen.
Doch nun äußert sich die verletzte Eitelkeit Dagnys, wie das
ihrer kleinen Seele entspricht; sie demütigt Nagel öffentlich,
sie veranlaßt Martha, sich von ihm loszusagen. Selbst den
Tod muß der Arme, der nun unverkennbar wahnsinnig wird,
zweimal suchen, bis er Ruhe findet.
Fast Alles, was wir in diesem Buche sehen (und es sind
auch noch viele Gestalten darnnter, die hier nur zu erwähnen
schon zu weit führte), sehen wir durch das Medium Nagels
sehen wir durch die Augen der Hauptperson. Giebt uns ein
objektiver Dichter ein Weltbild, wie es ihm erscheint, so giebt
uns Hamsun zunächst ein solches, wie cs der Person erscheint,
die ihm die wichtigste und der eigentliche Stoff seines Werkes
ist. N:.n hat auch dieser äußerste Subjektivismns seine großen
Borzüge, denn wir werden durch ihn in die Seele des Helden
mit einer Eindringlichkeit versetzt, die in der That keine andere
Technik annähernd so erreichen kann. Wir sehen auch darin
keinen Grnnd zum Vorwurf, daß unter einem Tansend selbst
wirklich gebildeter Leser wenigstens in Dentschland vorläufig
nicht zehn jene Beweglichkeit der Phantasie besitzen dürften,
die dazu gehört, sich sortwährend in eine sremde Seele zu
versetzen. Das lernt sich mit der Übnng; schon in einem
Jahrzehnt würde die Hälste von denen, die hent Hamsnns
Buch ununterbrochen zum Sterben langweilt, den Sinn sür
seine Feinheiten gewonnen haben.
Was der Versasser an seelischer Kleinmalerei leistet, scheint
mir schlichtweg bewunderungswürdig in seiner Art. Aber ich
habe auch an mir eine Beobachtung gemacht, die zu denken
giebt: die ersten Sätze der Schilderung eines neuen Seelen-
zustandes oder einer neuen seelischen Entwicklung las ich stets
mit höchstem Jnteresse, in der Fortsetzung aber befiel auch
mich leicht eine gewisse Ermüdung. Jch glaube, das liegt
daran, daß die einzelnen kennzeichnenden Dreh- und Wende-
punkte der seelischen Bewegung uns doch lange nicht so
wichtig sind, wie eben diese Bewegung als solche — werden
wir gezwungen, zu lange auf diesen Punkten zu verweilen, so
ist das, wie wenn wir eine lebendige Bewegnng durch die
Momentphotographie in die einzelnen Stadien zerlegt sehen:
erst der Schnellseher, der Alles verbindet, brächte in die Sache
wieder Leben. Was wir hier brauchten, würe eine ganz kurze
schlagende Charakteristik der wichtigsten Bewegungspunkte. Und
nun, so überraschend es klingen mag, so wahr ist es doch:
kurz und schlagend Seelenzustände charakterisiren kann keine
Dichtungsweise so gut wie Lyrik. Wir sind uns Ler unge-
heuren Entwicklungssähigkeit der Lyrik gerade nach dieser
Richtung hin noch gar nicht bewußt; wir haben bis jetzt kaum
die Ansänge jener psychologischen Lyrik, mit der auch der
Lyriker, wie das auf seine Weise der Epiker und der Drama-
tiker thut, sremden Seelen in ihre dunkelsten Tiefen leuchten
könnte. Wir kennen sie kaum, wenngleich uns schon diese
Thatsache aus sie hinweisen sollte: daß gerade die Charakteristik
des Dramatikers, wo sie entsprechende Höhepunkte einer
inneren Handlung zu schildern hat, sehr ost ganz unwill-
kürlich in lyrische Behandlungsweise nmschlägt. Ein Stoff
wie diese „Mysterien" verlangte, glanb ich, der von uns kürz-
lich besprochenen großen lyrischen Form, um wenigstens
künstlerisch völlig besriedigend behandelt zu werden.
Das sreilich ist ja richtig, daß ein so zu sagen „allgemein-
giltiges" dichterisches Gebild überhaupt nicht aus ihm ent-
stehen könnte. Nicht deshalb, weil der Held der Geschichte
geistig krank ist; wir wissen es ja aus der Literaturgeschichte,
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daß gerade über die ergreifendsten Dichtungen der Wahnsinn
blicken kann. Aber wir sehen dann, w i e aus gesunden Menschen,
wie aus Lear, Ophelia, Gretchen Wahnsinnige werden. Der
Held der „Mysterien" jedoch hat bereits bei seinem Auftreten das
Leiden im Gehirn. Möglich, Laß seine geistige Krebskrankheit
unter anderen Verhältnissen nicht znr vollen Entwicklung ge-
kommen wäre, aber ohne dieses Krankhafte in Nagel hätten
ihn auch diese Reibungen mit der Philisterwelt nicht zerrüttet,
ja, sie wären dann gar nicht möglich gewesen in solchem Maße;
den Doktor Stockmann im „Volksfeind" machen entsprechende
Erfahrungen erst recht gesund. Damit fällt sür die meisten
Leser jenes menschliche Nahgefühl zum Helden weg, das aus
dem nnbewußten Empfinden erwächst: auch mir selber könnte
es so ergehen. Selbstverstündlich aber schließt diese Be-
schränknng der Wirkung keineswegs einen Vorwurf gegen den
Dichter in sich. Wer an seinem Mitmenschen recht teilzunehmen
vermag, auch ohne daß geheime Beziehungen anf seine eigene
Person mitspielten, den wird ein derartiges' Werk ergreifen
können, und wäre es nur, weil es ihn die eine oder andere
leidende Seele besser zu verstehen lehrte. A.
Gesammelte werke von ksossmann von Fallers-
leben. Herausgegeben von vr. Heinrich Gerstenberg.
8 Bände. (Berlin, F. Fontane K Co., t890—9-4.)
Was Hoffmann von Fallersleben selbst in seinen letzten
Lebensjahrett angestrebt hatte, das haben jetzt Erben und Ver-
ehrer des Dichters in liebevoller Sorgsamkeit zur Ausführung
gebracht: eine Sammlung seiner poetischen Werke. Sechs
starke Bände süllen die Gedichte Hoffmanns; ihnen ist seine
Autobiographie „Mein Leben" angeschlossen.
Als ein rechter Liederdichter ist Hoffmann heute wohl all-
gemein anerkannt. Diese Anschanung wird uns nnr aufs Neue
bestätigt, wenn wir hier zum ersten Mal die Gesamtheit seiner
Gedichte bei einander sehen und überblicken. Freilich: nicht
alles, was sich da in den sechs Bänden findet — es mögen
an zooo Gedichte sein! — besitzt Wert und Bedeutung. Manches
Lied ist sarblos, wässerig, nichtssagend; aber dem steht eine
andere Reihe lyrischer Schöpfungen gegenüber, die zu dem
Besten gehören, was die deutsche Dichtung an sangbaren Liedern
hervorgebracht hat. Und das sicherste Kennzeichen sür Hoff-
manns Bedeutung ist:.seine Lieder leben in der That, leben
in unserem Volke, werden gesungen, oft ohne daß man ihren
Versasser beim Namen kennt. Das ist ja auch gerade das,
was dieser sich gewünscht hat; die große Masse des
Volkes, die naive, frisch-empfängliche, hat er stets als sein
Hauptpublikum vor Augen gehabt. Daher die Einsachheit des
gedankkichen Jnhalts, die Klarheit der Sprache und Metrik',
der leichte gesangliche Rhythmus in allen seinen Gedichten!
Denn gesungen vor allem sollten seine Lieder werden, gesungen
draußen in der sreien Natur, nicht gelesen in enger Stube
durch das Glas einer gelehrten Brille. „Meine ganze Poesie
ist reine Lyrik und dazu eine rein deutsche und will auch
weiter nichts sein, unzertrennlich vom Gesang." Noch gefördert
wird die Verbreitung von Hoffmanns Gedichten durch den
Grundton, der in ihnen allen kräftig durchklingt: die Vater-
landsliebe — sie sind „rein deutsch". Jst doch Hoffmanns
bekannteste Schöpsung unsere zweite Nationalhymne geworden:
„Deutschland, Deutschland über Alles." Und Hoffmann ist der
Sänger der Lieder: „Treue Liebe bis zum Grabe schwör ich
Dir mit Herz und Hand . . ." und „Zwischen Frankreich und
dem Böhmerwald . . ." Neben dem Vaterland gelten seine
Verse der Liebe, dem Frühling, der Heimat, dem Wandern —
alles Stoffe, die jeder nnserer bedeutenden volkstümlichen
Lyriker behandelt hat. Fast einzig in ihrer Art sind dagegen
Hoffmanns Kinderlieder, die mit ihrer reizenden Naivität und
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