Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1893)
DOI Artikel:
Goethes Stellung zur Gegenwart
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0075

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Lrsles Dezember-Dett 1893.

Goetkes Ltellung

ne fortdauernde Bedeutung unserer Klassiker
beruht nicht vorwiegeud dariu, daß sie uns be-
sonders trefsliche Dichtungen hinterlassen haben,
an denen wir uns erbauen und erheben können.
Weit daruber hinaus ist es ihre Stellnng in der Bildungs-
geschichte und Knltur unseres Volkes, ihr. umgestaltendes
Eingreifen in das deutsche Seelenleben, was den Klassikern
einen Ansprnch nicht nur auf Fortleben, sondern auch auf
Fortwirken ihrer Schriften verleiht. Vergegenwärtigen
wir uns die starre Nüchternheit jener Verstandesherrschasch
die auf dem deutschen Geistesleben in der ersten Hälste
des vorigen Jahrhunderts lastete, um die epochemachende
That eines Klopstock würdigen zn können, desien glühende
Begeisterung sich zum Uberschwung erheben mußte, um die
Fesseln des rationalistischen Verstandesdünkels zu sprengen.
Jn heilsamer Ergänzung wob Wieland zu diesem erhabenen
Zug das geistvolle Wesen und die Farbenpracht ciner
poetischen Wunderwelt. Lessings klarer, gebildeter Charakter
zertrümmerte endgiltig durch die zermalmende Macht seiner
Logik die leere Regelmäßigkeit, um auf den Ruinen den
Grund zu einer neuen, ästhetisch vollkommenen und ethisch
Ledeutsamen Dichtweise zu legen, welche zugleich liebens-
würdig menschliche Töne anklingen läßt. Jhm gesellt sich
Herder zu, um Lessings Gründlichkeit durch intuitives
Genie, Lessings Bildung durch Volkstümlichkeit zn er-
weitern und so selbst ohne eigne Prodnktionskrast Positives
zu wirken. Und nun tritt Goethe auf, der pietätvolle
Erbe all seiner Vorläufer, und verwirklicht ihr Programm:
die Begeisterung Klopstocks, der feine Geist und Glanz
Wielands, die überlegene Bildung und Charaktergröße

* Nachdruck vom Versasser verboten.

zur Gegenvvartck

Lessings faßt Goethe in sich zusammen, am cngsten aber
schließen er und Herder sich aneinander, dergestalt, daß
Goethes Produktion nach mancher Richtung zunächst wie
die Erfüllung Herderscher Verheißungen erscheint. Lied,
sangbares Lied wird Goethes Lyrik, eine kunstmäßige Ver-
klärung des Volksgesanges; Homer und Shakespere sind
nun in den übrigen poetischen Gattungen seine Leitsterne;
urgeborenes, reflexionslos schaffendes Genie, wie es Herder
ersehnte und vorahnte, in Goethe war es erstanden. Dann
entwickelt sich aus dem Schüler bald der Meister, und
namentlich zu Herders geschichtsphilosophischen Jdeen sind
Goethes Beziehungen nicht bloß empfangend, sondern auch
gebend. Ein zweiter Bewerber um das glänzende Erbe
namentlich von Klopstock und Herder tritt Schiller hervor,
auf seinen großartig wildgenialen Jugendwegen schon von
ker Wirksamkeit Goethes und seines Kreises beeinstußt.
Nach langem Läuterungsfeuer schließen sich beide in männ-
licher Reife znsammen, um sich zu beflügeln und ergänzend
zu bereichern. So leben sie vereint im Herzen der Nach-
welt fort, wenn auch jeder in einem gesonderten Reich für
sich eine Vorherrschaft ausübt. Aus ven Schwingen der
Schillerschen Dichtung erhebt sich der Jüngling und die
Jungfrau zur leuchtenden Höhe des Jdeals; in Zeiten
politischer Kämpfe nnd nationaler Erregung tönen Schillersche
Weisen voran. Der Mann und die selbständig gereifte
Frau aber leben in Goethe, wie überhaupt die Zeit der
Erfüllnng, des Friedens, des thatkräftigen Ausgestaltens
die Zeit unseres Goethe ist.

Die Überzeugung von dieser weiteren Bedeutung Goethes
als Mannes gerade unserer Zeit bricht sich immer ent-
schiedener Bahn. Still aber unaufhaltsam schreitet der

5. Ibekt.

Lrscbeinl

am Anfang und in der Mitte

Derausgeber:

ZferdLnand Nvennrtus.

Keskellpreis:

vierteljährlich 21/2 Mark. ^
 
Annotationen