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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 7 (1. Januarheft 1894)
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Spitteler, Carl: Tempo und Energie des dichterischen Schaffens
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0107

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Lrsles A-mnsr-Delk 18S4.

7. Dett.

Lrscbetnk

Derausgebcr:

Ferdmand Avennrtus.

Kesrellprets:
vierleljährlich 2 l/z Mark.

Anzeigen: Z gesp. Nonp.-Aeile HO ssf. -

Tempo und Lnergte des dicliteriscben Kckakkens

us übereinstimmenden Abhandlungen wie Ge-
legenheitskritiken geht hervor, daß heutzutage
in Deutschland durchschnittlich dem Dichter das
Zuwarten und Pausiren, also das Schassen
und Verössentlichen in längeren Zwischenränmen zur Tugend
angerechnet wird. Als Protest gegen die landläusige Fabrik-
arbeiß welche jährlich ein- oder zweimal ihren Roman oder
ihr Theaterstück zusammenschrotet, mag dieses Urteil völlig
am Platze sein, was ich um so williger zugebe, als ich
ebenfalls den lebhastesten Abscheu gegen jenen literarischen
Müllerfleiß verspüre.

Leider ist es der Fluch alexandrinischer Zeitalter, daß
sede ästhetische Wahrheit so lange dnrch den Mund der
Weisheit gezogen wird, bis sie schließlich insektiös wirkt.
Wird überdies der 'Sprnch noch durch das Wort oder
das Beispiel von Autoritäten nnterstützt, dann dankt meist
der Gedanke ab, sodaß korrigirende oder ergänzende That-
sachen überhaupt nicht mehr erwogen werden.

So scheint mir denn gegenwärtig die Gesahr im An
znge, daß deshalb, weil zufällig einer oder der andere
der neueren Großen einem hanshälterischen, vorsichtigen
Schafsen huldigten, der frische Mut und der Reichtum
den Nachkommenden zum Vorwurs gedreht werde. Das
hat allerdings keinen vernünftigen Zusamnkenhang, indessen
lehrt die Ersahrung, daß Verschiedenes gleicherweise gleich-
zeitig zu schätzen, die Kräfte eines theoretisch urteilenden
Geschlechtes übersteigt. Die Gefahr ist nähe, und ich er-
laube mir zu ihrer Abwendung an einige Thatsachen aus
dem Gebiet der künstlerischen Phpsiologie zu erinnern.

Reichbegabte geniale Naturen sind zu allen Zeiten
sruchtbar und im höchsten Grade schafsenslustig, falls sie

nicht durch besondere Hindernisse gehemrnt werden, dereu
es freillch eine Unzahl giebt, unter anvern das Ringeu
nach neuen Kunstformen, in dem Falle, daß die ererbten
sich überlebt haben. Jst hingegen alles im Reinen, außen
und innen, dann produziren die Größen mit erstaunlicbem,
oft geradezu sieberhaftem Eiser. Die Beispiele aus der
Geschichte der Musik uud der bildenden Künste stehen
Äedermann vor Augen; es liegt kein Grund vor, warum
es in der Dichtknnst, wenn sie sichere Formen vorsindet,
anders zugehen sollte. Auch kennt Deutschland, wenn ich
nicht irre, einen Klassiker ersten Ranges, dem das unnnter
brochene witlensgewaltige Schafsen bis zum letzten Atem-
zuge nicht zum Schaden gereicht hat.

Ästhetische Probleme wotlen überhaupt mit feinen
Fingern untersucht werden; mit Schlagwörtern und Autori-
täten schlägt man die Fragen tot, was schwerlich leben-
keimend wirken wird. Es giebt Kunstformen, denen das
Kaltstellen, Uberarbeiten und Nachfeilen wohlbekommt, an-
dcrn, welche in Einem Wurs fertig gemacht werden wollen.
Es giebt serner solche, in welchen die guten Dinge mit
Fühlfäden gesogen sein wollen, und ihnen gegenüber wieder
solche, die man hastig aus dem Grund wühlen muß, wie
der Stier den Rasen mit den Hörnern aufwühlt. Es
giebt sogar eineu verschiedneu Grad von Reise, in welcher
diese oder jene Frucht geuossen werden will. Einige kann
man nicht lange genug am Baum hängen tassen, andere
mnß man einem kräftigen, aber kurz dauernden Sonnen-
schein aussetzen. So ist z. B. längst erkannt wordcn, daß
großangelegte Werke nicht mit jener Miniatursorgfalt, ich
möchte sagen Fließpapiersorgfalt nachbehandelt werden wollen,
wie eine Elegie odcr ein Lied. Anch hat noch kein Vem

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