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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 7 (1. Januarheft 1894)
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Spitteler, Carl: Tempo und Energie des dichterischen Schaffens
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0108

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fK

ständiger je dcm Dramatiker die regelmäßige Jntervall-
ardeit, den jahrlichcn Ertrag seiner Ernte zum Verwurf
gemacht. Eine Thatsache, dic siir sich allein genügen müßte,
die Theerie zn widerlegen, gegen welche ich hier kämpse,
wcnn überhanpt jemals sich eine Theerie dnrch Thatsachen
überzeugen ließe.

Neben den llnterschieden des Arbeitsgebietes müssen
anch die Unterschiede der schaffenden Jndividualitäten er-
wogen werden und zwar in erster Linie. llnterschiede in
der Begabungsart und Unterschiede im Temperament. Was
die Begabung betrifft, so liefert die Natur, selbst wenn
wir nur die hbchste llrbegabung, also das Genie ins Auge
fasfen, ungleiche Sorten hinsichtlich der Spruugkraft nnd
Quellfülle. Neben Hungerbrünnlein, die nnr nach Gc-
wittern fließen, neben sprnnghaften Teufelsbrnnnen, die
plötzlich in dichten Wogen kommen und wunderbar ver-
schwinden, neben mondgerechten ruhigen Tiefwasfern, die
säuberlich mit Ebbe nnd Flnt wechseln, spendet die Natur
unter anderen anch Strom und Wiesengenies, welche fo
überreich mit Sast und Samen geladen sind, daß ihnen
jeder Atemzug zur Produktion wird, bei Strafe des Er-
stickens im llnterlasfungsfall. Die sollen sich nun wahr-
fcheinlich einem ästhetischen Modedogma zulieb ihren ge-
segneten Mund schließen? Oder wollen ihnen die drei
weisen Jnngfern der Nacht gewaltsam ein Papagenoschloß
vorlegen? Ofsen gestanden, wer in der Kunst über das
Zuviel des Schönen klagt, dcssen Schönheitssinn ist mir
verdächtig.

Das Temperament betressend, so gelangen wir hiermit
in das wichtige Bereich der Persönlichkeit.

Es giebt Leschauliche, zufriedene, innige Phantasie-
menschen, welche sich schmunzelnd unter einen blühenden
Weidenbusch setzen, die Angel zwischen den Knieen, nnd
nun mit halbgeschlossenen Lidern geduldig abwarten, bis
die Goldsische anbeißen, tagelang, wochenlang, einerlei.
Diese werden mit ausgesucht seinen Bissen auf den Martt
kommen, aber selten. Es giebt aber auch srische mutige
Phantasiemänner, welche in raschem Boot mitten in den

hohen See hinanssegeln, ric Ülasiw.im Morgenwind, di«.
Forellen in dichten Schaaren ins Netz scheuchend nnd die
Hechte spießend, daß es rundnm spri'tzt. Daß man jene
liebt, bcgrcife ich; ich liebe sie trotz Einem. Aber wenn
man mir nnn um jener willen diese vernnehren nwchte,
so soll doch das Wetter dreinfahren!

Wenn denn schon einmal abgemessen werden soll,
welches von beiden Teniperamenten das edlere sei, das
beschaulichc oder das energische (cs sollte zwar besser nicht
abgemessen werden), dann muß vielmehr dem willens-
kräftigen Temperamcnt der Vorzng zugesprochen wcrden.
Was ich durch drei Exempel beweisen will, zwei logische
und ein zoologisches t) Dem willensstarken Dichter steht
das beschauliche Sinnen in den Energiepausen frei; nicht
aber dem beschaulichen Dichter der Aufschwung zu nach-
haltiger Energie. 2) Wenn man den wegcn ihrer seligen
Beschaulichkeit beneideten Dichteru am Lebensabend durch
das Schlafzimmerfenster guckt, so hört man sie über ihre
unselige Fanlheit seufzen. z) Es giebt nicht bloß Fische,
sondern es giebt auch Viersüßer und Vögel. Vou diesen
lassen sich manche in allerlei Schlingen nnd Fällen fangen,
manche aber müssen auf dem Anstand im Flug herunter-
geknallt werden, mit scharfem Blick und schneller Hand,
manchen muß man sogar zu Pferde unermüdlich nachsetzen,
bis sie sich schließlich ergeben. „Wenn Jhr's nicht sühlt,
Jhr werdet's nicht erjagen." Jch bitte nicht zu übersehen:
Selber hat er freilich nicht gejagt, aber sein Jagdhund
hat ihm's apportirt, und er hat ihn gestreichelt, als er's
ihm ans dem Maul nahm. — Endlich das Wichtigste:
Wie wollen Sie, bitte, das kostbarste Wild, die Adler
und dergleichen, in Jhre Gewalt bekommen, wenn nicht
mit angespannter Energie? Da kann Einer lange mit
seinen klugen Dichteraugen auf der Lauer sitzen, die kommen
nicht herab, nicht einmal auf Gesichtsweite, geschweige denn
auf Schußweite. Deuen muß man mutig nachklettern, auf
Gletscherhöhe, unter Anstrengungen, daß man sich unterwegs
zehnmal den Tod wünscht, bis Einen die reine Höhenluft
die Schultern badet und der ersehnte Vogel plötzlich über
dem Kops schreit. ikurl Spttteler.

DLcdtung.

Ikundsckau.

* Scböne Literatur. 30.

G 0 ttsried Rellers Le b e n. Seine Briefe und Tage-
bücher. Von Jakob Baechtold. Erster Band: bis

t850. (Berlin, Wilhelm Hertz.)

Ein Werl, das ich den Lesern des Kunstwarts mit der
herzlichsten Freude anzeigen kann.

Baechtold hat uus nicht eine Lebensbeschreibung nach Art
der üblichen gegeben; die besondere Aufgabe, gerade einen
Gottsried Keller zu kennzeichnen, veranlaßte ihn zur Wähl und
Ausgestaltung einer besonderen Form. Briefe, Tagebuchblätter
uud sonstige Niederschriften lagen in Menge vor, Keller war
gewohnt, sich in ihnen ganz frei zu erschließen, und so zeigte
sich die schöne Möglichkeit, den Mann selber sein Werden und

j Sein schilderu zu lassen. Freilich, das Bild, das sich aus dem
! Vorhandenen ergab, hatte der Lücken und matten Stellen noch
immer zu viele. Glückte aber, es zu ergänzen, so konnte ein
Werk gebildet werden, das Gottfried Keller wie in leibhaftiger
Gestalt nns vorsührte. Mit genaner Kenntnis der Sachlage
und der Fragen und mit redlichem Fleiß hat Baechtold die
Ergänzung versucht. Und sie ist ihm vortrefflich gelungen.

! „Kellers Leben" tritt vor uns zugleich mit den Vorzügen
eines wissenschaftlichen und eines Kunstwerks.

Der eben erschienene erste Band des Ganzen führt Kellers
Kindheit und Jugend an uns vorüber. Und wie sich die
Schatten der Vergangenheit zu Fleisch und Blut verkörpern,
! wird es uns bald, als wandelten wir wieder zwischen den



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