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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 7 (1. Januarheft 1894)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0109

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Menschen des Grünen Heinrichs. Der herrliche Vater Lee
schreitet auf uns zn, in Wahrheit Drechsler Rudolf Keller
geheißen, und die ftill sich mühende Mutter des wunderlichen
Knabeu, die ilus nicht so bald verläßt; das Urbild des
Meretleins grüßt im Vorbeischwebeu und das des früh ver-
unglückten kleinen Meierleins, des „erften Widersachers", guckt
herüber; gauz deutlich kominen Frau Margret und Vater Jakob
daher, im Lande des Jrdifchen Herr und Frau Hotz genannt;
und auch die frühverfchiedene Jugeudgeliebte schreitet leise vor
nns dahin. Was von den Gestalten gilt, gilt vom Erleben
und Gefchehen: überall Grüner Heinrich! —

Diese Zeilen wollen nicht versuchen, das Lefen des Buches
zu ersetzen, sondern fie wollen anregen, es kennen zu lernen,
damit man sein Freund werde. Und fo halt ich es ganz und
gar nicht für meine Aufgabe, das knaph Geschilderte noch
knapper zu wiederholen uud, fo zu sagen, Kellers Werdegang
mit Siebenmeilenstiefeln nachzulaufen. Man muß es selber
aufnehmen, was von den früheften Anzeichen einer Berufung
zum Künstler hier zu lesen steht, wie sich der Maler vorbereitete
und wie aus dem Maler kein Maler wurde, aber dafür ein
Poet. Und wie in wunderlichem Kreuz und Quer, und doch
aus gar früh schon erkenntlichen Keimen, die Menschenpersönlich-
keit sich abrundete und abeckte, die uns teuer ist. Über manches
davon, so über Kellers Liebesleben, wird der Öffentlichkeit hier
wohl zum ersten Male ganz Zuverläfsiges geboten. Und der
Brief z. B., mit dem der junge Herr Gottfried um Luise
Rieter anhielt, gehört zu den köstlichsten der „menschlichen
Dokmnente", die der Band bringt.

Aber auch für die Keuntnis des reifenden Künstlers giebt
er uns wertvolle Mitteilungen in Fülle. Über Kunst und
Dichtung mit sich klar zu werden durch Aussprache oder Nieder-
fchrift der rumorenden Gedanken darüber, das liebte Keller
j früh, und mehr und niehr nimmt auch die Form der betreffenden
Ausfprüche Kellerscheu Eigencharakter an. Aber zu Zeiten
hören wir den Dichter nicht nur als Betrachter, fondern als
Dichter reden auch, wo er in Prosa spricht. Man nehme seine
Aufzeichnungen von Träumen vor. Jch habe fchon früher
einmal besprochen, daß es keinen besseren Beweis echt dichterischer
Kraft gebe, als die Fähigkeit, einen Traum so darzustellen,
daß wir von feinem Wesen als Traum überzeugt werden.
Baechtold erinnert an Hebbels kühnes Wort: „Mein Gedanke,
daß Traum und Poesie identifch sind, bestätigt sich mehr und
mehr." Und er bezeichnet den einen dieser Dichterträume mit
vollem Recht als „felber die holdeste Poesie". Der mag hier
folgen:

Jch ftand in der Dämmerung auf dem Rathausplatze
unter einem jener großen Volkshaufen, die fich zu versammeln
pflegen, wenn irgend ein Verbrecher auf die nahe Hauptwache
geführt wird. Es war schon dunkel, als langsam ein Wagen
durch das Gedränge gefahren kam, auf welchem eine unkennt-
liche schlanke Weibsperson saß. Quer auf den Knieen lag ihr
ein totes Kind; sie aber faß aufrecht und reglos. „Da kommt
die Kindesmörderin", fummte das Volk, „in einer halben
Stunde wird sie geköpft." Als ich die hohe Gestalt über den
Häuptern der Menge dahinschwanken sah, hatte ich, wie ich
mich ziemlich bestimmt erinnere, das Gefühl: ich wünschte ihr
noch, daß das genossene Liebesglück kein gemeines und fo groß
gewesen sein möge, als das gegenwärtige Leid. Dann sei es
schon gut.

Es stiar jetzt ganz Nacht geworden. Eine weiche, weiche
Hand faßte die meine. Ein ganz unbekanntes fünfzehnjähriges
Mädchen, dessen Augen ich in der Dunkelheit funkeln sah,
flüsterte mir ins Ohr: „Gottfried Keller, komm, wir wollen
zu mir heim gehen!" und zog mich geschickt und sachte aus
dem Gedränge. Wir gingen durch allerlei dunkle Gäßchen,
Lie ich in Zürich bisher gar nicht gekannt hatte und die auch
nicht existiren. Das Mädchen schmiegte fich an mich und
war ein unsäglich buseliges und liebliches Wefen, welches mich

-

ungemein behaglich machte. Jch verwunderte mich auch nicht,
als auf einmal ihrer zwei daraus wurden, dereu jede an einer
meiner Seiten hing. Sie waren ganz gleich, nur mit dem
Unterschiede einer etwas jüngeren und älteren Schwefter. Als
wir, in einem Sackgäßchen angekommen, vor einem hohen
schmalen Hause standeu, hießen mich die Kinder leise und
behutsam gehen. So stiegen wir viele enge und steile Treppen
hinan, jeden Tritt berechnend in der schwarzen Finsternis.
Sie führten mich an beidenstHändeu. Oftmals hielten wir an,
und die guten Mädchen suchten dann mein Gesicht und küßteu
mich herzlich, aber vorsichtig auf den Mund. Sie konnten,
wie mich dünkte, die Küsse sehr gut und vollkommen aus-
prägen, ohne Geräusch zu machen: sie fielen von ihren Lippen,
wie neue goldene Denkmünzen auf ein wollenes Tuch, ohne
zu klingen. Darum brauchten wir eine lange Zeit, bis wir
endlich oben, in einem kleinen Dachkämmerchen, waren.
Dasselbe war ganz vom Monde erhellt; die runden Scheiben
der Feusterchen waren auf den Boden gezeichnet. Sogleich
zogen wir alle die Schuhe aus ch. um nicht laut aufzutreten.
Man sah^aus dem'Fenster, vor welchenQeinjhohes Dach hinab-
ging, über viele Dächer hiuweg, unter denen man kaum die
Fenster als schwarze Vierecke erkennen konnte. Der Mond-
schein schwamm auf deu Düchern; die Stadt war eingeschlafen
und still. Wir waren auch mäuschenstill; denn die Mädchen
sagteu, daß viele alte böse Weiber in den benachbarten Dach-
kammern wohnten, welche ihnen immer aufpaßten und jede
Freude zu verbittern suchten. Wenn eine aufwache und uns
höre, so seien wir des Todes.

Wir saßen an eineni kleinen Tifchchen zwischen dem
Fensterlein und dem Bette, welches mit eiuem schneeweißen
Tuche fehr ordentlich und glatt bedeckt war. Wir durften
natürlich kein Licht machen und faßen auch lieber so im
Halblichte. Wir aßen und tranken etwas, aber ich weiß nicht
mehr was, nur daß wir vergnüglich und leise die blinkendeu
Gläser aufhuben und wieder absetzten; und wenn etwa eines
an einen Teller stieß, so zuckteu wir ängstlich zufammen. Als
eines der guten Kinder aufstand, das Betttuch abnahm und
sehr sorgfältig zusammenlegte und dabei sagte: „Wenn wir
schläfrig werden, so können wir uns nun gleich aufs Bett
legen und rechtschaffen fchlafen", da durchfuhr mich ein ganz
seliges Gefühl, aber nicht eigentlich sinnlich. Sie setzte sich
wieder ans Tifchchen und bot mir ihre weißeu jungen Schultern
zum Liebkosen. Da fuhr sie plötzlich zusammen und sagte:
„Herr Jesus,> Idie Weiber kommen!" Halbtot vor Schreckeu
duckten fich beide fast in mich hinein, und ich umfing sie,
indemfwir/alleldrei atem- und lautloskiaufhorchten. Wirklich
hörte ich deutlich, wie jemand über das Dach hinschlarpte, an
einem benachbarten Dachfenster anklopfte, wie dort ebenfalls
jemand herausstieg auf das Dach. Dann sahen wir ver-
fchiedene Schatten vor unserm Fenster vorbeihuschen; es war
offenbar, die alten Weiber weckten und versammelten sich.
Die Ziegel raffelten unter ihren schlurfenden Füßen. Es kam
immer näher^über unsern°Köpfen. Es flüsterte: „Langt nur
'nein, sie haben gewiß einen bei sich!" Ein Ziegel wurde auf-
gehoben: eine lange, magere Hand langte herein, tappte herum
und erwischte meine Haare, welche gen Berg standen. Das
Blut schien in meinen Adern zu gerinuen, — als ich erwachte
und tief aufatmete.

Jn einem Anhange bringt der Herausgeber frühe
literarische Arbeiten Kellers zum Abdruck. Eine ganz be-
fondere Freude werden davon die Gedichte in der Keller-
Gemeinde erregen. Denn wenn wir die Gründe auch gelteu
laffen müsfen, die von der Aufnahme in die gesammelten Werke
abhielten — der Kellersche Geist fchaut doch so oft in Pracht
aus diesen Versen, daß uns wohl und warm dabei wird.

Schon in den ersten Reimversuchen, die hier mitgeteilt
sind, kommt hie und da eine Stelle mit Kennzeichen des
Echten wenn auch noch nicht des Starken. Als aber Keller
„wieder in Zürich" ist, aus München zurück nämlich, also in
den Jahren H6, entspringt seiner Phantasie schoichwahr-

haft Charakteristisches, von eigentlich schönen sowohl wie vou
Gaben des iu ihm merkwürdig früh entwickelten Humors.
Schon das erste der hier nun gedruckten Gedichte dieser Zeit,
„Jrrlichter", welches dasMocken der Augensterne seiner Jugend-
geliebten fchildert, denen er vertrauend folgt, bis fie auf einem
 
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