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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 18 (2. Juniheft 1894)
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Die Erweckung des Natursinns
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0284

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Jäger geht etwas naher darauf ein, wie wichtig für
die einzelnen Gebiete des Knnstsinns ein frühzeitiges Ver-
trautwerden mit Mutter Natur sich erweife.

Er erinnert daran, was sür wunderliche Erfahrungen
der Schulmann an feinen älteren, reifercn Schülern bei
der Beschäftigung mit Poesie mache, wenn, wie ja zumeist
an unseren höheren Schulen, die llnterrichtsweise „über-
wiegend literarisch" gewesen ist. Da kriegen die Jungen
die vielberühmten Anfsatzthemen „Ein Spaziergang", „Der
Wald im Frühling" u. s. w., aber der Armen Not ist
groß, denn sie haben keine rechten Erinnerungen, keine
eigenen Beobachtnngen, keine selber aus der Welt heraus-
gesehenen Bilder im Kopf, mit denen sie anf solche Aufsatz-
sorderungen zahlen könnten. Es drängt sich vor den endlich
geborenen Geschöpfen ihrer Angst der Eindrnck geradezu auf:
hier muß etwas fehlen in unserem llnterricht. Werden
die Jungen zu Jünglingen, so scheint's mit den dentschen
Arbeiten besser zu werden. Ach, es scheint nur so, denn
was den Aufsätzen der Oberklassen ein wenig Anschen giebt,
ist allein die größere sprachliche Fertigkeit, die mittlerweile
angelernt worden ist und die nun über die Sache gestrichen
wird wie ein Lack. Es sind ja in den paar Jahren
allerhand konventionelle Vergleiche, Bilder und Gedanken
ans den Büchern in die Köpfe mit hinüberdestillirt worden
auf jenem Dampf wässriger Redensartcn. Wir möchten
diesen Punkt noch weit entschiedener betonen als Jäger,
denn wir sehen hier eine der Hauptursachen für das so
schreckhaft lahme Entgegenkommen unsrer sogenannten
Gebildeten gegen wahre Poesie. Man weiß nnter ihnen
nicht mehr, was dichterische Sprache ist. So gewiß nicht
frühzeitige „Formenglätte", so gewiß nicht die Geschicklichkeit
im Berwenden der Sprache, „die sür ihn dichtet und
denkt", das Werden eines echtcn Dichters verrät, sondern
ein zunächst ost mühseliges, schwerfälliges, stammelndes
instinktives Ringen nach eigenem bezeichnenden Ausdruck,
so gewiß wird anch der nicht zum Verständnis wirklicher
Poesie erzogen, dem man in seiner Schulzeit das eleganteste
Dreschen längst zu leerem Stroh gewordener Phrasen mit
einer I unter den deutschen Arbeiten lohnt. Am bestcn
deutsch schreibt, wer seinem Leser mit deutschen Worten am
zutresfendsten gerade das vermittelt, was er ihm zn ver-
mitteln hat — sei es eine Thatsache, ein Gedanke, eine
Anschauung oder eine Stimmung, liege der Ton aus dem
Was oder dem Wie seines Bewußtseinsinhaltes, handle
sich's also um wissenschaftliche oder, was ganz etwas andres
ist, um künstlerische Sprache. Und da sollte man sich's
doch klar machen: hat der Schreiber nichts zn vermitteln,
so kann man bei seinem Elaborat von einem Unterschied
zwischen Wortgeklapper und Wortgeklingel reden, aber von
Sprache überhaupt kaum. Sprache ist ein Ding, das
entsteht, wenn man etwas sagt; ohne das „etwas"
giebt's nur Wörter. Kann also der Schüler den Stoss
seines Aufsatzes nicht aus dem Eignen seiner bescheidnen

Persönlichkeit erfassen und nachgestalten, sv muß er ans
Klappern und Klingeln gehn, und das verdirbt ihm auf
Jahre oder auf Lebenszeit den Gebrauch einer eignen
natürlichen Sprache sowohl wie den Genuß an echter Poesie.
So fordert auch der llnterricht im Deutschen frühzeitige
Bereicherung mit Selbstgeschenem, Selbstgehörtem, Selbst-
empfundenem. Und da die Natur für den gesunden
Menschen die Heiniat ist, so soll er sich in ihr vor allem
umthnn.

Auch im Hinblick auf die Lildenden Künste gilt
iruatntm nrutnnclis das früher Gesagte. „Das Kind
bildet und schult bei seiner Beschäftigung mit der Natur
nicht nur sein formales Beobachtungs- und Auffassnngs-
vermögen, sondern es versieht sich auch mit einer Fülle
von Stofs, an dem sein Geschmack und seine Phantasie,
sowie, wenn einmal theoretische Unterweisung hinzutritt,
sein künstlerisches Urteil einen sicheren Anhaltspunkt besitzt.
Wenn die neue Methode des gegenwärtig stark in Um-
wandlung begrifsenen Zeichenunterrichts, wenn nach
einigen sogar der Geometrieunterricht möglichst bald von
körperlichen Formen ausgeht, so liegt dem der gewiß
richtige Gedanke zu Grunde, daß gleichzeitig mit der Technik
des Strichemachens in der Anschauung und Vor-
stellung des Schülers Gebilde geschasfen und heraus-
gearbeitet werden müssen, für welche jene Striche nur das
Symbol sind. Warum nun aber diese Übung der An-
schauung erst in dem Augenblick anbahnen wollen, wo der
technische Zeichen- und Geometrieunterricht beginnt, wo
dann meist die Zeit drängt und die technischen Schwierig-
keiten der Darstellung jedenfalls dem minder veranlagten
Schüler nicht immer düe geistige Ruhe gönnen, sich ganz
in den darzustellenden Körper hineinzuleben? Wenn der
Schüler schon auf der untersten Stufe veraulaßt wird,
einzelne der unzähligen Formen, die ihm die Natur bietet,
genau ins Auge zu sassen, dann wird ihm später das
Zeichnen auch nicht mehr als eine so sremdartige, mit
seinen andern Schnlfächern in so gar keinem Zusammen-
hang stehende Beschäftigung erscheinen, wie das heutzutage
wohl der Fall ist, sondern eben, wie es sein soll: als der
Anfang der Ausübung einer Kunst, in deren Technik nicht
jeder gleich weit kommen, aus der aber jeder herzerfreuenden
Gewinn ziehen kann. Übrigens wird auch der methodisch
besteingerichtete, in erster Linie aus ästhetische Schulung an-
gelegte Zeichenunterricht aus naheliegenden Gründen die
Aufgabe, den Kunstsinn in der Schule zu erwecken und zu
pflegen, für sich allein niemals in vollständig befriedigender
Wcise erfüllen können."

Unser Schulmann meint, selbst die Musik würde von
solcherlei Schulausslügen in die Natur etwas Gutes mit
heim bekommen. Man müsse sreilich den Begrisf Musik
etwas weiter fassen, als man's gewohnt sei: nicht nni
Tonleitern und Akkorde könne sich's hier handeln, „sondern
darum, dem Schönheitssinn, wenn wir uns so ausdrücken



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