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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 11 (1. Märzheft 1894)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Eine grosse lyrische Form?
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0172

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der Geiiamüen vergleichen will mit jener grvszen lyrischen
Form, die sich ans der folgenden kleinen Betrachtnng
als ctwas, das wir wünschen, ergiebt, wird das kaum bestreiten
könneir Es thut übrigens der Bedeutnng der betreffenden

Dichter nicht den geringsten Abbruch, denn der Wert einer

Dichtung hängt nicht von ihrer Gattung ab.

Wie aus der ehischen Schilderung und der drama-
tischen Spiegelung mit dem Anwachsen des Epos und des

Dramas ein Geschehen sich cntwickelt, so wird es Auf-

gabe der großen lyrischen Form sein, ein Geschehen zu
entwickeln. Und zwar, da der eigentliche Gegenstand der
Lyrik als der subjektivsten aller Künste stets nur das
redende Jch sein kann, eine Entwicklnng in diesem Jch;
keine äußere also, sondern eine innere Handlung (wennschon
vielleicht angeregt durch eine äußere) — eine Charakter-
entwicklung. Erst dann also werden wir das Problem
der höchsten großen lyrischen Form als gelöst anerkennen
können, wenn es gelungen sein wird, die Entwick-
lung eines Charakters mit lyrischen Kunst-
mitteln überzeugend darzu stellen.

Darzustellen -- nicht, sie zu schildern, zu be-
sprechen, zu besingen. Einige der lyrischen Zyklen, die wir
haben, lassen ja schon eine Charakterentwicklnng erkennen,
aber, wie schon gesagt: sie begleiten diese nur, um bei
jenen einzelnen Phasen zu verweilen, deren Stimmungen
sie zu lyrischen Gedichten reizen, nnd diese nun zn besingen.
Der Lyriker, der unser Problem verwirklichte, hätte nicht
beliebige der Stimmungen, welche die Handlnng bringt,
herauszuwählen darauf hin, ob sie an nnd für sich zur
Behandlung locken, sondern er hätte alle zn behandeln,
die sür die Entwickelung des betrefsenden Charakters
bestimmend sind. Er müßte, dem Dramatiker gleich,

eine Exposition geben und dann im strasfen Aufbau bis

zur Höhe eine geschlossene Komposition, deren Träger all
die Momente sind, welche die Entwicklung bestimnien.

Nicht ein Motiv dürfte fehlen, das irgendwie wichtig
mitspricht >— so wahr cin jeder Gegenstand seinen
Stimmun gsw ert hat, so wahr läßt sich auch ein
jeder lyrisch behandeln, wenn die Krast des Dichters ihn
durchdringt. Und nicht erst als Fertiges, nein, als Keim
schon müßte dieser uns jede Stimmung erkennen lassen, wie
wir aus seinem Herzschlag das Sein des ungeborenen

Kindes erkennen. Das dunkle Ringen der Kräfte in der
Brust seines Helden müßte er uns zeigen, dann erst ver-
stünden wir ganz, was als Stimmung, als Gedanke, als
Wollen, was als Charakter ans Licht tritt. Dann erst
überredete nicht nur, dann erst überzeugte er uns davon,
daß wahr ist, was er uns zeigt.

Nehmen wir an, der Dichter habe sich das Folgende
zum Stofse gewählt, das er in großer lyrischer Form be-
handeln wolle. „Ein junger Arzt verliert unerwartet und
gerade, da er ein Heim begründen will, seine leidenschaftlich
geliebte Braut. Zunächst kann er den Verlust nicht sassen

— als er ihn nach und nach bcgreift, erkennt cr anch
mehr und mehr, wic all sein bisheriges Leben in dieser
Gestorbenen gewurzelt hat; haltlos treibt er nun der Ver-
zweiflnng, dem Wahnsinn, dem Selbstmord entgegen. Da
stellt ihn plötzlich das Schicksal mitten hinein in anderer
Menschen Leid, zwingend, zu vergleichen. Und wie er 'sich
sträuben mag, er kann sich der Wirkung so eindringlicher
Anschaulichkeit nicht entziehen. Leise zuerst, doch nach und
nach anschwellend zn unwidcrstehlichem Befehl hallt aus
dem Unbewußten seiner Seele das Lebe! Die Wohlthat
des Mitleids, des Denkens nnd Sorgens für Andere, der
Arbeit überhaupt geht ihm allmählich auf und dazwischen
das Bewußtsein davon, wie viel ihm die Geschiedene gegeben
hat, was nicht gestorben ist. Die Ahnnng erdämmert, die
Erkenntnis erlichtet sich ihm, daß gerade der Schmerz alle
Kräfte seiner Seele geübt und gestärkt hat zur Empsäng
lichkeit auch sür das Große und Schöne. So geht auch
jene Zeit vorüber, da er in Entsagung auf eigenes Glück
nur aus Pslichtgefühl weiterzuleben entschlossen ist: als ein
Weihegeschenk des tiefsten Schmerzes erkennt er in sich
die Fähigkeit anch zn tiefinnerlicher Freude. Dcn wir als
unreisen Jüngling kennen gelernt, verlassen wir als einen
zn voller geistiger Mannheit gereisten großen Menschen."

Dieser Gegenstand könnte recht wohl in zyklischer Weise
behandelt werden. Etwa ähnlich wie Chamissos „Frauen-
Liebe und Leben"; der Dichter verweilte bei denjenigen
Punkten einer angedeuteten Handlung, die ihn zn lyrischem
Beschanen anzögen, und er begleitete ihre Stimmungen lied-
artig mit lyrischen Akkorden. Oder er gestaltete aus dem
Stoff eine lyrisch-epische Dichtung, indem er sie als ein
Mitwissender und Mitfühlender, aber nicht in der Jch-
Form, stimmungsvoll erzählte und vielleicht gelegentlich
Gedichte einstreute, um den Seelenzustand seines Helden
zu schildern. Das bekannteste Beispiel solcher Form, freilich
heiteren Jnhalts, ist Schessels „Trompeter". Oder auch:
die lyrisch-epische Dichtung könnte in der Jch-Form ge-
schrieben werden, etwa als ein eigenes Erlebnis, das aus
seiner Vergangenheit der Sprechende erzählt - - das gäbe
wahrscheinlich eine „Novelle in Versen". Wer in der großen
lyrischen Form, von der wir sprechen, gestalten wollte, hättc
doch anders vorzugehn. Zweierlei wäre sür ihn gegeben,
das, was von den erwähnten Dichtungen auch die einzige
rein lyrische, Chamissos „Frauen-Liebe und Leben", zeigt:
Jch-Form und Form ver Gegenwart. Wir sollen ja mit-
leben in der Seele des Helden und sollen das Einwirken
der Ereignisse auf ihn unmittelbar als etwas Gegenwärtiges
empsinden. Aber es gilt bis in jene Tiefen zu gehen, aus
denen heraus eine Charakterentwicklung in allen Phasen
anschaulich und durch diese Anschaulichkeit überzeugend wird.
Also bedarf es zunächst einer Epposition, die uns die Persön-
lichkeit des Helden und die Verhältnisse seines Lebens klar-
legt. Nun beginnt die Bewegung: wie cr sich sorgt, wie
er leidet, wie er erkrankt, wie er geneset, wir müssen es
 
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