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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 21 (1. Augustheft 1894)
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Lier, Leonhard: Das Deutsche Drama: in den literarischen Bewegungen der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0332

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sonders engherzigen Gelehrtenkreisen als Zeichen des
Dilettantismus, der Schöngeisterei, in der Literatur nach
Goethe noch wissenschastliche Lorbeeren ernten zu wollen.
Daß die Folge dieser Anschauungen hier und da als
Mangel sedes persönlichen Jnteresses an neueren Dichtungen
hervortritt, deutet Litzmann zwischen den Zeilen an. Unter
diesen Umständen ist es schon ein Verdicnst, diesen Bann
des Gelehrtenwahnes zu durchbrechen und auf das un-
entdeckte Land mahnend hinzuweisen.

Hören wir nun, was Litzmann von den Modernen zu
sagen hat! Die literarische Bewegung, die in Deutschland
in den achtziger Jahren begann, vergleicht sich nnt der
Sturm- und Drangperiode des t8. Jahrhunderts vor
allem darin, daß sie eine Empörung der Jugend gegen
die in konventionellen Formen erstarrte Herrschast der
Alten darstellt. „Beiden gemeinsam ist die. überraschend
schnelle Verrückung der Altersgrenze. Die literarische
Pubertät tritt fünf bis zehn Jahre früher ein als in
normalen Zeiten." Diese Jünglinge geberden stch als
die Reformatoren der Zukunft und erzwingen sich Gehör,
nicht nur durch die Massenhaftigkeit ihres Auftretens,
sondern auch durch die Art, wie sie, zum Nachdenken und zum
Widerspruch reizeud, künstlerische Probleme neu aufwerfen
oder doch in einer neuen Beleuchtung zeigen, dergestalt,
daß sich die scheiubar für alle Ewigkeit festgelegten Kon-
turen der verschiedenen Dichtungsformen verändern und ver-
schieben. So jung wie die Neuerer auftaucheu, so rasch
verschwinden sie von der Bildfläche, um jüngeren Raum
zu geben. Das Ziel des Angriffs ist, wie bei den Lenz
und Klinger, die Konvention in Sitte, Gesellschaft und
Kunst. War aber der Sturm und Drang eine Empörung
von durchaus nationalem Charakter, eine Auflehnung des
impulsiven Talentes gegen die blasse Regel, so ist das
Charakteristikum der neuen Bewegung, nach Litzmanns
Dafürhalten, „ein internationaler, fast antinationaler Zug,
ein Überragen der blassen Abstraktion, ein Hang zur
Theorie, zu theoretischen Haarspaltereien." Das Jdeal
ist nicht das Moderne, sondern die Moderne, eine
lerninn, ein seinper vLrindile. „Der gemeinsame
Nährboden, aus dem dieses Jdeal seiue Nahrung zieht, ist
leider die moderne Nervosität und Hysterie. Auf diesem
Grunde entwickeln sich je nach der Jndividualität, dem
Bildungsgang, dem Temperament, die heterogensten Er-
scheinungen: krassester Materialismus, mystischer Spiritismus,
demokratischer Anarchismus, aristokratischer Jndividualismus,
pandemische Erotik, sinneabtötende Askese. Gemeinsam ist
auch allen der Drang, diese verschiedenen Formen der
Empfindungswelt und Weltanschauung in denkbar kräftigst
auf die Sinne wirkender Gestalt, in peinlich treuester Re-
produktion der natürlichen Erscheinungen zum Ausdruck zu
bringen, unter gewaltsamer Sprengung der hergebrachten
technischen äußeren Fornien, sobald diese der rücksichtslosen
Durchführung dieses Programmes widerstreben; eine neue

^-—

Zeit ist angebrochen, die mit allen diesen alten Vorurteilen
aufräumt, nnd deren neue künstlerische Jdeale wir Poeten
am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts zu verwirklichen
berufen sind." Man wird dieser Charakteristik Litzmanns
fast allenthalben zustimmen und mit ihm der Hoffnung
sein dürfen, die er mit den Versen des Mephistopheles
ausspricht:

„Doch sind wir auch mit Diesen nicht gefährdet,

Jn wenig Jahren wird es anders sein.

Wenn sich der Most auch ganz absurd geberdet,

Er giebt zuletzt doch noch 'nen Wein!"

Worin aber bestehen die wesentlich modernen Züge der
neuen literarischen Bewegung? Litzmann sucht sie zuuächst
in den zahllosen, nicht nur in die geistige, sondern auch in
die sittliche Welt unseres Seins eingreifenden Problemen der
Naturwissenschaft, in ihren Errungenschaften für die Jn-
dustrie und in deren Folgeerscheinungen auf wirtschaftlichem
Gebiete, in dem Entstehen eines „physisch und wirtschaftlich
im Keim (?) degenerirteu Proletariates und in dessen
sozialem und politischem Einsluß, in der kolossalen Stei-
gerung des Verkehrslebens nnd in der dadurch begünstigten
Nervosität der Menschen." Das Wachsen aber des Ver-
kehrslebens begünstigt auch den „internationalen antinatio-
nalen Zug" und sördert auf der anderen Seite die Schärse
und Genauigkeit der Beobachtung. Die Thatsache, daß
sich der Drang zum Naturalismus gerade jetzt auf allen
Gebieten des künstlerischen Schafsens regt, bedeutet für
Litzmann nicht nur eine Reaktion gegen die Jdealisirung
und Stilisirung der natürlichen Dinge, soudern auch eine
physiologische Folge der durch die eigentümlichen Kültur-
bedingungen der neuesten Zeit gesteigerten Reizbarkeit
unserer Sinnesorgane. „Der moderne Mensch empfindet
die idealisirenden Konturen eines menschlichen Körpers, die
stimmungsvoll abgetönten Farben eines Landschaftsbildes,
die iu der Seele unserer Altvorderen jenes Lustgesühl
wachriefen, das als das Wesen des Künstgenusses galt,
als einen Fehler wider die Natur, als etwas Falsches,
Unwahres. Seine Seele wird dadurch nicht in sympathische
Mitschwingungen versetzt, sonderu es wird vielmehr eine
Dissonanz geweckt, die direkt ein Unlustgefühl zur Folge
hat." Der Konflikt aber zwischen dieser neuen Kunst nnd
dem Publikum läßt sich dadurch ausgleicheu, daß erstens
jeue auf die dem Schönheitsgefühl widerstrebenden Reiz-
mittel verzichtet, die mit der Treue gegen die Natur, der
künstlerischen Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit nichts zu thun
haben, und dadurch, daß zweitens das Pnblikum seine
Organe so verfeinert, daß ihm die Treue und Wahrhaftigkeit
seelischer oder sinnlicher Gemälde an sich künstlerischen
Genuß zu gewähren vermag. Das Übermaß der jugend-
lichen neuen Kunst kann den Einsichtigen nicht schrecken, der
in dieser Phase einen Schritt der Entwicklung vom Kon-
ventionellen zum Charakteristischen beobachtet. Für die starke
Bevorzugung gewisser sepueller Probleme sührt Litzmann
nicht ohne Grund die Jugend vieler Autoren in das Feld,

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