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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 21 (1. Augustheft 1894)
DOI Artikel:
Lier, Leonhard: Das Deutsche Drama: in den literarischen Bewegungen der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0333

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für die dereinst die Zeit kommen werde, wo sie nicht in
jedem WeiLe, das offen seiner Leidenschaft die Zügel schießen
läßt, um deßwillen die sreiere, vornehmere, edlere Natur
erblickt, im Gegensatz zu denen, die streng und keusch ihren
Weg wandeln, und welche die Jugend deshalb sür Heuch-
lerinnen hält. Andererseits aber ist die Ofsenheit in
sexuellen Fragen eine Auflehnnng gegen die Prüderie, die,
wie Litzmann mit Recht sagt, im innersten Kerne unsittlich
ist und die dadnrch nicht zuletzt gefördert wurde, daß das
Jnteresse der Frauen sür literarische Werke weit stärler
und einflußreicher wurde, als das der Männer. Mit dem
dadurch mehr und mehr großgezogenen Verschleierungssystem,
mit der Literatnr „für die Kinderstnbe und Kaffeekränzchen"
mußte gebrochen werden. Der Bruch war ein radikaler,
es fehlte anch nicht an solchen, welche die neugewonnene
Freiheit schamlos ausnützten; ihnen gegenüber stehen aber
Schriststeller von hohem sittlichem Ernst, die für die
Sünden der Speknlanten nicht büßen dürsen. Diese Klasse
der literarischen Spekulanten hat abgewirtschaftet. Noch
immer aber leiden wir, nach Litzmanns Meinung, an den
Folgen des „Skandinavismus", dessen Hauptvertreter
natürlich Jbsen ist. Man wird Litzmann nur Recht
geben können, wenn er aus alle die Eigenheiten des nor-
dischen Dichters nachdrückliches Gewicht legt, die ihn, trotz
aller Stammesverwandtschaft, von uns trennen, Eigenheiten,
die sich in Jbsens Werken sowohl nach den sittlichen und
sozialen Gesichtspunkten, wie nach denen der Technik be-
obachten lassen. Man darf übrigens wohl jetzt annehmen,
daß Niemand mehr von der blinden Nachahmung Jbsens
das Heil unserer Literatur, besonders der dramatischen,
erwartet, wenn auch die Fülle der Anregung, die er ge-
boten hat und noch lange bieten wird, nicht unterschätzt
werden soll.

Von diesen allgemeinen Betrachtungen, die wir, in
Übereinstimmung mit ihren wesentlichen Gesichtspunkten,
zum Teil dem Wortlaute nach wiedergegeben haben, wendet
sich Litzmann znr Betrachtnng der dichterischen Thätigkeit
Gerhart Hauptmanns. Litzmann hat diesem Thema
zwci volle Vorlesnngen gewidmet, aus denen wir nur die
leitenden Gedanken herausgreifen. Hauptmann steht zwar,
so heißt es da, auch im Banne des norwegischen Dichters,
aber er ist eine scharf ausgeprägte Natnr von unverwüst-
licher Eigenart; von außen kommenden Eindrücken zwar
zugänglich, aber doch sich selbst treu. Selbst bei der Be-
handlung des Motives der erblichen Belastung bleibt er
sich treu, er erkennt noch andere Motive an, als die rein
pathologischen, er meidet den alles Leben erstickenden Hang
zur Symbolisirung. Er hat das Zeug zum nationalen
Dichter in sich, der „dunkler Gefühle Gewalt, die in
unserem Herzen schlasen, zu wecken weiß"; „eine tiefe
Sehnsucht nach Reinheit und Unschuld weist ihm inmitten
der modernen naturalistischen Bewegung eine Stellung für
sich an." Ja, wenn wir Litzmann recht verstehen, meint

cr, Hauptmann strebe in seinen Dichtungen weit über das
Ziel der Zola und Jbsen hinaus, deren Dichtungen er
in „Vor Sonnenaufgang" selbst als Medizin, als not-
wendige Übel bezeichnet hat, und er sehne sich selbst nach
der Zeit, wo er, statt der jetzt noch notwendigen Medizin, dem
Volke einen frischen Trunk reichen dürfe. Die Sehnsucht
der Modernen ist in dieser Andeutung in ihrem Kerne
erfaßt, sie sind Trauernde über die Zeit, Hossende auf
die Zukunft. Jn Hauptmanns erstem Werke, dem er
eine genaue Darlegung widmet, bewundert Litzmann mit
Recht das Liebesidyll zwischen Helene und Loth. Die
Dissonanz, mit der dieses Stück schließt, wird im „Friedens-
fest" gelöst, das ebenfalls anssührlich besprochen wird.
Leider wird an den weiteren dramatischen Werken Haupt-
manns rasch vorbeigegangen, die „Weber" werden sogar,
vor allem anf Grund der Komposition, als ein Rück-
schritt (!) bezeichnet; das „Hannele" war damals noch nicht
bekannt.

Die nächste Vorlesung ist H ermann S udermann
gewidmet. Der Verfasser scheint in ihm ein stärkeres
Talent sür das Dramatische zu erblicken. Er ist ihm ein
geborener Satiriker, aber auch ein Dichter, der einen Blick
für die Leiden der Zeit hat. Die „Ehre" stellt Litzmann
nicht besonders hoch. Alle Motive arbeiten auf eine
tragische Lösung hin, aber wir erhalten nur eine Schein-
lösung. Der Held entzieht sich den Konsequenzen der
tragischen Situation. Aber neben der großen technischen
Gewandheit ist das feste Ergreifen einer brennenden ge-
sellschaftlichen Frage zu rühmen. Jn „Sodoms Ende"
erblickt Litzmann das „vulkanische Produkt einer bis in die
tiefsten Tiefen leidenschaftlich aufgewühlten Menschenseete,"
„einen leidenschastlichen Protest gegen die Verlogenheit und
Unsittlichkeit einer Gesellschaft, der nichts mehr heilig, der
alles feil und käuslich ist, die Ehre, das Gewissen, die
Liebe, die Kunst, und die in Folge dessen jeden, der nicht
mit dreifach bewehrter Brnst in ihren Bannkreis eintritt,
physisch und moralisch korrumpirt." Voll der Anerkennung
aber ist Litzmann für die „Heimat", in welcher der Dichter
das tiefe Problem, von allen Zufälligkeiten und Kleinlich-
leiten losgelöst, in so edler künstlerischer Form zu gestalten
gewußt habe, „daß sein Wort, um eines anderen Dichters
Wort zu gebrauchen, ist, »wie die Taube, die überm Meer
der Leidenschaften schwebt«; dadurch wirkt es, wie ein großes
Kunstwerk wirken soll."

Wenn nun Litzmann in seiner Schlußvorlesung der
deutschen Literatnr das Horoskop stellt, so weiß man, nach
alle dem, daß er es in einem günstigen Sinne thun muß.
Den Endzweck aber seiner Bemühungen faßt er in der
Ausgabe zusammen, das, seiner Ansicht nach, erste und
einzige Grundgesetz literarischer und künstlerischer Kritik so
eindringlich nnd nachdrücklich wie irgend möglich praktisch
zn demonstriren: „Nicht danach bestimmt sich der Wert
eines Kunstwerkes, ob es dem Jdeal dieser oder jener


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