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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 21 (1. Augustheft 1894)
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Lier, Leonhard: Das Deutsche Drama: in den literarischen Bewegungen der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0334

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Theorie entspricht oder nahe kommt, sondern danach, wie
stark und überzengend darin die künstlerische Persönlichkeit
des Urhebers zum Ausdruck kommt." Jn dicsem Lehrsatz,
über dessen Einzelheiten sich, besonders unter dem Gesichts-
punkt der Persönlichkeitz ja noch streiten laßtz ist dem
Kunstphilistertum, dem künstlerischen Polizeistaat, von dem
wir Ansangs sprachen, der Fehdehandschuh hingeworfen.
Jn dieses Philistertum hinein zählt auch die Stumpsheit
und Gleichgiltigkeit gegen ernste literarische Fragen, die
niemals verhängnisvoller sein kann, als in einer Zeit der rasch
vorwärts strebenden Entwicklung. Als einen nicht zu unter-
schätzenden Kunstfeind haben wir endlich noch den Hang zur
nationalen Rückgratlosigkeit, zur Jnternationale zu bekämpfen.

Wir haben im Vorstehenden den Gedankengang der
Litzmannschen Vorlesungen wiedergegeben, soweit er die
Richtung angeht, die mit dem leidigen Ausdruck der
Moderne bezeichnet wird. Jm Wesentlichen haben wir
bereits unsere Zustimmung zu diesen Gedanken ausge-
sprochen. Bei scharfer kritischer Beleuchtung des Ganzen
würde wohl hervorzuheben sein, daß diesen Gedanken
weniger der Reiz und die anregende Kraft der Neuheit
den Wert verleiht, als die bemerkenswerte Stelle, von der
sie ausgehen. Mit Rücksicht hierauf auch und auf die
Jünger, die zu den Füßen des Lehrers saßen, geht die
Darstellung über den Zweck einer versöhnlich gestimmten
Aufklärung, einer anfpornenden Anregung nicht hinaus,
sie deutet vieles, vor allem den innigen Zusammenhang
der Dichtung mit den Erscheinungen des öffentlichen Lebens
nur in allgemeinen Zügen an, sie geht ferner auf die
Frage, in wie weit eine neue Gedanken- und Empfindungs-
welt die Sprengung der alten Formen und die Bildung
neuer rechtfertigt oder gar bedingt, kaum ein. Es heißt
zwar, daß die Theorie nicht den Wert eines Kunstwerkes
bestimmt, sondern die Persönlichkeit, aber man hat doch
das Gefühl, als stehe der Verfasfer mit beiden Füßen
auf dem Boden der alten Theorie oder als habe er doch
wenigstens noch nicht untersucht, welche neue Theorie sich
auf dem Wege der Erfahrung aus den neuen Werken,
nicht als ehernes Gesetz, sondern als entwicklungs- und
wandlungfähiges Prinzip ableiten ließe. Freilich sind ab-
schließende Untersuchungen hierüber noch nicht möglich, weil
noch alles im Fließen begriffen ist, auch müßte setzt
wenigstens, um ein einigermaßen ansreichendes Bild zu ge-
winnen, Lyrik und Epik mit in den Kreis der Betrachtung
gezogen werden. Alle diese Wünsche hängen freilich in der
Luft, weil Litzmann seine Aufgabe sich ausdrücklich eng
begrenzt hat, sie finden aber vielleicht für eine erneute
Bearbeitung des Themas eine gute Stätte.

Einer kleinen — oder großen? — Unterlasfungssünve
muß ich mich endlich noch schuldig Lekennen. Jch bin nicht
nur über die einleitenden Vorlesungen, welche einen Über-
blick über die deutsche Literatur im ersten Jahrzehnt nach
dem großen Kriege eröffnen, sondern auch über die drei

Vorlesungen, die sich nüt Ernst von Wildenbruch beschäftigen,
stillschweigend hinweggegangen. Der Grnnd war der, daß
das Schwergewicht des Buches mir in den Vorlesungen
über die literarische Revolution, wie sie Litzmann nennt,
zu ruhen schien. Wenn in den einleitenden Vorlesungen
die Frage aufgeworfen wird: wie reagirte die deutsche
Dichtung auf den nationalen Aufschwung nach dem großen
Kriege, so reicht die Antwort, daß die Reaktion alle Er-
wartungen enttänschte, trotz der ausführlichen Darlegung
im Einzelnen, doch nicht aus. Die Gründung des Reiches
bedeutete eine Erfüllung lang gehegter Hoffnungen; diese
Hosfnungen haben ihren poetischen Ausdruck gefunden und
fich an diesem Ausdruck genährt und gekräftigt bis zur
Erfüllung. Die Erfüllung selbst fand keine Dichter, die
neuen Gedanken aber, die dann auftauchten, fanden wieder
ihre Vertretung in der Poesie. Das Reich der schaffen-
den, schöpferischen Geister ist nicht die Vergangenheit, nicht
die selbstzufriedene Gegenwart, sondern die Zukunft mit
neuen Forderungen, neuen Jdealen. Sollten die Dichter
von der Größe des geeinten Vaterlandes singen und sagen?
Hätte dieser Siegesrausch den Bedürfnissen der deutschen
Volksseele entsprochen, die sich nach eben gethaner Arbeit
aufs Neue vor Aufgaben von unabsehbarer Tragweite und
Schwierigkeit gestellt sah? Und konnte der weiter blickende
Geist, desfen der Dichter des Volkes bedarf, an den Er-
scheinungen, die dem großen Siege folgten, zur Schasfens-
freude sich stärken? Diese Fragen, meinen wir, müßten
bei der Untersuchung der Reaktion der Dichtung aus die
Gründung des Reiches in den Vordergrund gestellt werden,
wie es ferner lohnen würde, ganz allgemein den Einsluß
der politischen Dinge auf die Dichtung auf sein wahres
Maß zurückzuführen. Unseres Erachtens wird er weit
überschätzt. Jn einer Betrachtung des modernen Dramas
durfte Ernst von Wildenbruch nicht fehlen. Litzmann
nimmt sich des viel Umstrittenen mit besonderer Wärme
an, wenn er ihm auch nicht bis zu den Hohenzollerndramen
Gefolgschaft leitet. Bei aller der Anerkennung, die dem
jungen Wildenbruch geschenkt wird, hätte doch auch ge-
prüft werden müssen, aus welchen Gründen der Ruhmes-
glanz des Dramendichters Wildenbruch so schnell verblichen
ist. Sollte es nicht gerade das Aufhißen der Fahne der
Wahrheit sein, das seine älteren Dramen von der Bühne
fast verdrängt hat, und der Mangel einer kraftvollen,
eigenartigen Persönlichkeit, in der ja auch Litzmann einen
kritischen Wertmesser ersten Ranges erblickt? Für unser
Gefühl klafft zwischen den Vorlesungen über Hauptmann und
Sudermann und denen über Wildenbruch eine Kluft, die zu
überbrückeu wenigstens der Versuch hätte unternommen werden
sollen. Trotz dieser Einwendungen begrüßen wir jedoch
Litzmanns Vorlesungen über das moderne Drama als ein
erfreuliches Zeichen, daß auch die literarische Wisfeuschaft
schulmäßige Vorurteile, als gefährlichen Ballast, über Bord
zu werfen bestrebt ist. Leonbard Aller.
 
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