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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 22 (2. Augustheft 1894)
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0359

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hat Lessing wohl selber eingesehen, denn wie entschuldigend
sagt er: „Wie viele wissen denn, was geschehen ist?"
Das heißt doch, sich auf die Unkenntnis, sagen wir ruhig,
auf die Dummheit des Publikums verlassen. Das Mogeln
ist crlaubt, denn die Leute verstehen's nicht besser. Ja
sreilich, wenn es so ist, dann allerdings. Aber heutzutage,
wo eine nennenswerte Kenntnis der Geschichte schon in
jeder Volksschule verbreitet ist, kommt man mit solchen
Verlegenheitserklärungen nicht mehr aus. Den Satz, den
Lessing aufstellt, daß er von der historischen Wahrheit
nach Belieben abweichen dürfe, wcnn nur die Charaktere
dabei gewahrt werden, möchte ich geradezu umkehren:
Verfahre mit den Charakteren, wie dir's
richtig erscheint, wenn nur die historischen
Fakta unverändert bleiben! Für jeden Bühnen-
schriftsteller gelte als erstes Gesetz: Strengste historische
Wahrheit! Jn der Auffassung der Charaktere darfst
du deinen eigenen Weg gehen.

Denn was ist eigentlich das Feststehende in der Ge-
schichte? Die Charak'tere sind es doch nicht; die Er-
eignisse sind's, die Thatsachen, das Gcschehene (vgl. die
Etymologie des Wortes Geschichte!). Charakterbilder
schwanken hin und her, werden bald so, bald so auf-
gefaßt, je nach Temperament oder Absicht. Historische
Charaktergemälde ergeben sich fast ausschließlich aus den
historischen Handlungen; jene sind pshchologische Deduktionen
aus diesen. Verliert der Dichter nicht den logischen Zu-
sammenhang zwischen Charakter und Handlung (und das
ist die Veraussetzung der inneren Wahrheit!), dann wird
das Wesensbild auf der Bühne sich in der Hauptsache
genau so ausnehmen wie das historische, wenn anders das
historische richtig ist. Möglicherweise kommt auch der
Dicbter, der intuitive Seelenanalytiker, einmal zu andern
Ergebnissen als die geschichtliche Forschung; auch der
Historiker kann irren. Die treibende Feder, das Wie und
Warum in den Handlungen bleibt dem Historiker häusig
verborgen; es bleibt eine Lücke in dem Gesamtbilde, welche
der begabte Forscher durch Kombinationen aussüllt. Die
geheimsten Wechselbeziehungen zwischew^den Verhältnissen,
in denen der Held lebt, der unendlich verschlungene Weg
von der ersten Regung in der Seele des Charakters bis
zu der daraus erwachsenen Handlung, ist ein Pfad durch
den Urwald, den der wägende Verstand zumeist verfehlt.
Hier tritt der Seherblick des Dichters, die Divination,
ergänzend ein. Und es bleibt doch Geschichte. Oder
vielleicht nur darum nicht, weil der Dichter die Kombination
machte und nicht der Historiker? Könnte es nicht sein,
daß der Historiker gelegentlich zum Dichter in die Schule
geht? Mußte er sich nicht oft vom Volksglauben, von
der Sage Lelehren lassen? Warum nicht auch vom echten,
rechten Dichter? Es ist doch noch nicht ein jeder ein
Dichter, der ein historisches Schauspiel schreibt! Und mag
der Znschauer anfänglich auch etwas befremdet aus das
neue, von geschichtlicher Lehre abweichende Charaktergemälde
schauen — schafft vor ihm eine große dichterische Kraft,
so wird er (die Wahrheit wird ja nirgends verletzt) von
der packenden Lebenstreue hingerissen und er verläßt das
Theater mit dem Gefühl, daß der Dichter einen glänzenden
Sieg über den Historiker davongetragen. Diesen Sieg
kann aber der Poet nur erringen, wenn er den Historiker
nicht mißhandelt. Stellt er die Ereignisse falsch dar, dann

darf auch sein aus jenen abstrahirtes Charaktergemälde
keinen Anspruch auf Wahrheit machen. Beide, Dichter
und Geschichtsforscher, müssen mit einander arbeiten. Keiner
darf den andern vergcwaltigen. Jch möchte den Geschichts-
forscher mit einem Manne vergleichen, der in der Erde
nach ihren Bestandteilen sucht. Sein Spaten wirft
Schlacken, Lehm, Geröll, Krystalle aller Art ans Licht des
Tages. Seine Absicht ist erfüllt: er weiß, wie sich die
Erde zusammensetzt. Der Dichter kommt hinzu. Sein
scharfer Blick erkennt unter dem Geförderten einen Edel-
stein. Er befreit ihn von den Schlacken, schleift ihn, bis
der Stein schließlich in herrlichstem Glanze strahlt und
auch der Mann, der ihn mühsam aus der Tiefe der Erde
hervorgrub, sich an seiner Schönheit crfreut.

Es liegt in diesem Bilde noch eine zweite Wahrheit:
Die Poesie dars nicht alles darstellen wollen; aber was
sie bietet, muß wahr sein. Man soll mich nicht falsch
verstehen. Kein historischer Stofs wird ohne Änderungen
verwertbar sein. Nichtsdestoweniger muß unverrückbar an
den gegebenen Thatsachen festgehalten werden. Diese Ver-
änderungen bestehen lediglich in einem Weglassen und in
einem Ergänzen. Befreiung von unverwendbarem Neben-
sächlichen und Ergänzung von Fehlendem — das sind
keine Falschungen. Der Historiker bietet dem Dramatiker
nur das Gerippe; der Poet umkleidet es mit Muskeln
und Nerven, durchglüht es mit frisch pulsirender Wesenheit,
läßt es zu uns sprechen, läßt es leiden und sich freuen,
denken und ringen, wie wir's bei Menschen gewohnt sind.
Es kann aber nicht immer in seinen Plan Passen, alle
Züge, die der Historiker zusammengetragen hat, zu ver-
werten. Manches entzieht sich der Darstellungssähigkeit,
anderes würde die Umrisse der Schöpfung nur verwischen,
die Aufmerksamkeit des Zuschauers ablenken. Von den
Ergäuzungen haben wir oben schon gesprochen.

Es liegt auf der Hand, daß, in der Weise betrachtet,
das historische Drama die höchsten Ansprüche an das
dichterische Können stellt. Man sollte sich eigentlich wundern,
daß man so vielen Stürmern begegnet, die geschichtlicher
Stosfe Herr zu werden versuchen. Aber gerade die
Schwierigkeiten sind es, die zu immer neuen Anläufen an-
feuern. Und dann gewährt es einen eigenen Reiz, Ge-
stalten der Geschichte, der Sage, die längst in das Be-
wußtsein zahlreicher Menschen, wohl gar des ganzen Volks,
der ganzen Menschheit übergegangen sind, durch den Zauber
der Poesie vor uns aufleben zu lassen. Dazn kommt
noch eins. Geschichtliche Vorgänge spielen sich in unserer
Vorstellung gleichsam auf hoher Bühne ab. Jn unsern
Augen wachsen historische Persönlichkeiten ins Riesengroße,
ich möchte fast sagen, sie stehen anf Kothurnen. Alles,
was sie sind, sagen und thun, fällt viel wuchtiger in die
Wagschale, als bei gewöhnlichen Sterblichen. Der Dichter
kann im historischen Drama nichts zeigen wollen, was nicht
eben so gut in ganz allgemeinen Verhältnissen und in
frei geschaffenen Charakteren zu zeigen wäre. Für die
Art der Wirkung ist es ganz gleichgiltig, ob der Held so
oder so heißt und ob die Handlung sich in dem Jahre
und an dem Orte zugetragen hat; aber der Grad der
Wirkung wird durch die historische Gewandung entschieden
erhöht; alles wird großartiger, imposanter. Und eine
möglichst tiefgehende Wirkung zu erzielen, ist doch der Ehr-
geiz jedes Künstlers. !Uax wundtke.

Nmerikaniscbe Arcbttektur. — IKundscliau. Dichtung. Schöne Literatur. zz. Das Geheimnis
des dichterischeu Schaffens. — Bildende Künste. Münchner Kunstausstellungen. 2. Berliner Kunstbrief.
Kunstblätter und Bilderwerke. zs. Protestantischer Kirchenbau. — Lpreebsaal. Die geschichtliche Wahrheit in den Schauspielen.

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