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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1894)
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Von der dekorativen Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0380

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klingt ein wohliges Behagen an mein Ohr, ich höre die
Musik der Dichtung, die onomatopoetische Naturalistik, ich
höre leise Umrisse der Dinge, die da geschehen, ein Wogen
von Farben und Stimmungen ohne massive Festigkeit, ein
latentes Urbild der Elemente, die auf dem Untergrunde
der Dichtung ihr Leben haben, einen gänzlich undefinir-
baren Klang, in dem alles Bestimmte untertaucht, seine
zitternden Spiegelbilder hinterlassend. Sie ist wenig von
Nutzen, diese dekorative Wirkung der Poesie, aber sie ist
doch da und, wenn man gerecht sein will, sie steckt mehr
oder weniger in jeder reinen Poesiewirkung, die ohne ihre
Mithilfe von ihrem Glanze und ihrem tief erregenden
„unterbewußten" Eindruck verlieren würde.

Jch will heute hauptsächlich von dieser dekorativen
Wirkung der Musik sprechen, die noch wenig beobachtet
ist und die doch ihren großen praktischen Wert hat. Wenn
ich im Konzertgarten sitze und, während das Orchester
unter kaum gewürdigter Anstrengung seine Stücke spielt,
das Publikum in angcregtester Stimmung sich unterhalten
sehe, dann frage ich mich: wie ist es möglich, daß die
Musik, sonst die anspruchsvollste aller Künste, sich hier
dazu hergiebt, den Leuten etwas zu bieten, was sie gar
nicht beachten, und das dennoch ein so wichtiger Faktor ist im
Stimmungsleben dieses Stückchens Welt? Wäre sie nicht
da, so fehlte doch der Nerv diesem Naturausschnitte. Den
Menschen würde es still und bange sein, wie den Gästen
am Festmahl, denen die Tafelmusik ausgeblieben ist. Auch
diese hören nicht aus das, was ihnen die Musik bietet, sie
hören nur überhaupt Musik und sie kommen gerade durch
diese Unklarheit des Hörens in ihre eigenste Stimmung.
Und das ist dieselbe Musik, die sonst so sehnsüchtig ver-
langt, daß kein fremder Laut um sie schwebe, daß die
Menschen in stummer Spannung ihren Bewegungen und
Äußerungen solgen, wenn sie nur künstlerisch heißen wollen?
Man käme aus dem Dilemma nicht heraus, wenn man
dieser dekorativen Musik ihre Daseinsberechtigung versagte.
Sie ersüllt ihren Zweck, Stimmung zu machen, nur da-
durch, daß sie den Ansprüchen ihrer strengsten Konsequenzen
nicht nachgiebt, und also: sie muß ihre eigenen Gesetze
haben.

Die dekorative Musik, d. i. Tafelmusik, Gartenmusik,
alle die Musik, die nicht so sehr das ecouter wie das
entenctre fordert, hat zunächst ihre ästhetische Berechtigung
in ihrem rein akustischen Momeut. Wie man nämlich
die Erfahrung macht, daß eine Versammlung von Menschen
schon durch ihr Zusammensein, ihre Unterhaltung, ihre
unwillkürlichen Lärmäußerungen sich die nötige Stimmung
besorgt und daß sich über die Vereinigung weniger Menschen
in einem weiten Raume, wenn sie still und in sich gekehrt
sind, eine gähnende Leere und Trostlosigkeit niedersenkt, so
besorgt die dekorative Musik zunächst diese gar nicht zu
unterschätzende Aufgabe, dem Lärm der Stimmung eine
harmonische Grundlage zu geben. Sie macht das nötige

allgemeine Geräusch, an welches sich Lald jene Behaglich-
keit anknüpft, die die Menschen aus ihrer Nachdenklichkeit
reißt und hörbar einander näher bringt. Der Einzelheiten
dieses Geräusches ist man sich nicht Lewußt, es schlingt
sich nur wie ein unwillkürlich empfundenes Fluidum durch
alle Seelen und treibt an und füllt die Lücken und be-
sänftigt wieder die schaukelnden Wogen der lärmenden
Geselligkeit. Die Musik ist dann nichts als Schall und
zwar ein stilisirter Schall, der feinste und ausgesuchteste
aller Schalleffekte, der aus dem brütenden Lärm der Welt
feste Klangformen, sichere Konturen bildet. Wenn ich ein-
mal nur die Ästhetik des Geräusches triebe und mich unter
solchem Gesichtspunkt vor den Konzertgarten stellte, so
würde ich vernehmen, wie aus diesem Meer von un- I

artikulirten und doch so lebhaft angeregten Lauten, aus
dieser eigenartigen Stimmung einer in leichtem Verkehr
rauschenden Menschenmasse die Tonwellen der dekorativen
Musik sich erheben, wie Führerinnen in diesem zusammen-
gehörigen Chaos, dessen Teile einer den andern bedingen
und fördern.

Die Stilisirung des Lärms, welche die dekorative
Musik besorgt, entwickelt sich nun nach zwei Seiten. Zu-
erst nach der rhythmischen. Wer sein Ohr an die
Vorgänge unserer Welt legt, der hört wohl in guten
Stunden mehr als ein bloßes kreischendes Geräusch, er
hört Rhythmen, große Rhythmen in charakteristischen Aus-
drucksbewegungen, in der schweren, aber vielsagenden Sprache
ihres dröhnenden Taktes. Man übe sich. Man beginne
mit den einfachsten Rhythmen der Schritte, der Tropfen,
der Worte. Man komplizire sie und lasse sie häusiger,
enger zusammenklingen. Das allgemeine Geräusch löst sich
in deutliche Einzelzüge, wie sich die Takte spalten, die
Spaltungen jagen, die Jagden verschnaufen, wie die große
Seele der Welt in einen verwickelten Mechanismus un-
zähliger Schallerregungen ausbricht, als einen in jeder
Zuckung charakteristischen Pulsschlag, der überall und nie
versiegend vom inneren Leben kündet: das ift dem Ohr,
welches solche Dinge zu hören versteht, eine unendlich reiche
Kunst des Rhythmus, des seelischen Taktes. Die Jntervalle,
die Lautstärken, die Pausen, die dumpfen und die hellen
Schläge, die weither kommenden und die plötzlich nahen,
die frechen und die verschwimmenden, das ist eine nie er-
müdende Sprache des Ausdrucks unserer Umgebung, die
das hingebende Ohr mit Wonne schlürft, das Ohr, welches
so viel tiefer empfindet, als das Auge. Aber auch der
Mensch, dessen inneres Ohr sich zu dieser Schärfe nicht
ausgebildet hat, steht in geheimer rhythmischer Ver-
bindung mit seiner Nebenwelt. Es ist ein Miteinander
in den großen Pulsschlägen, welche Menschen und Um-
gebung verbinden; es ist eine unbewußte, geheimnisvoll
suggestive Parallele zwischen den Lautäußerungen und ihrem
übersprudelnden Takte Leim Menschen und bei der Um-

> gebung. Wie es unwillkürlich stimmunggebend auf mich

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