das denn doch die Höhe des eigentlich knnstlerischen Ge-
nießens bedeutet. Wir haben ja gerade in der deutschen
Literaturgeschichte der Beispiele iibergenug davon, daß sür die
Gemeinde die Auslegung des Predigers schließlich maßgebender
wnrde, als der Bibeltext. Für die Wirkung auf weitere Kreise
lob ich mir deshalb als Vermittler jene bescheidenern Geister,
die sozusagen ihre Gedanken dreimal in der Hand umdrehen,
ehe sie sie ausgeben, nnd sich hüten etwas zu sagen, von dem
nicht ganz klar ist: der Dichter hat gewollt, daß es erkannt
werde.
Jch gestehe, von seinem Goethe-Buch her eine gewisse
Vorliebe gerade sür Lewes zn haben, der zu den Deutern mit
Prophetenblick ja gewiß nicht, sicherlich aber zu den verdienst-
lichsten Verkündigern des Schönen sür weitere Kreise Knnst-
bedürftiger gehört. Eine gewisse Vorsicht, die nicht aus
Nüchternheit stammt, hat ihn dort mancher Modetheorie gegen-
über die Augen jenes „gesunden Menschenverstandes" offen
halten lassen, den wir wohl nirgend zur herrschenden Majestät
machen, dem wir aber ein Amt als vortragende Exzellenz
überall gewahrt wissen möchten. Jch erinnere an Lewes'
Stellung zu dem zweiten Teile des Faust, vor dem er die
Anforderungen der Kunst besonnener im Auge behalten hat,
als gar viele nnd hoch gelobte Männer. Auch sein Buch über
Shakesperes Frauengestalten wird solchen Männern nnd Frauen
und insbesondere solchen Jünglingen und Mädchen ein em-
psehlenswerter Führer sein, die zu eigenem starken Verhältnis
zum Meister des Dramas noch nicht gediehen sind. Nach einer
gnt unterrichtenden Einleitung über „die Zeit Shakesperes"
und einer zweiten über die englische Bühne bis zu seinem
Auftreten wird die Charakterschilderung der wichtigern Frauen-
gestalten an der Handlung und dem Dialog der einzelnen
Werke entwickelt. Die Ausgabe, Neues zu bringen, stellt sich
dabei der Verfasser nicht; „er bildet sich vielmehr ein, er habe
mit seinen Lesern eine herrliche genußreiche Reise gemacht und
wolle nun die gemeinsamen schönen Erinnerungen anffrischen
und in Zusammenhang bringen." Bei der Wärme seiner Teil-
nahme am Stoffe, bei der Abwesenheit eines pedantischen
Unterweisens und von Schulmeisterei in jedem Sinne über-
haupt gelingt ihm das völlig befriedigend. Und er erreicht so
auch das, was er als seinen zweiten Zweck bezeichnet: am
Beispiele des tiefsinnigsten Dramatikers den Lesern anschaulich
zu machen, wie wenig höchster „Realismus" und höchster
„Jdealismus" Gegensätze sind. Hätten wir von Lewes ein
gemeinverständliches Buch über Shakespere, das sich nicht so
sehr auf die weibliche Hälste der Menschheit beschränkte, noch
vorgezogen, so dürfen wir nach dem Gesagten doch auch das
erschienene als eine ungewöhnlich nützliche Bereicherung unserer
Literatur immerhin recht willkommen heißen. — u —
Tbeater.
* Micbttgere Scbausptel--Aukkübrungen. 60.
Aus München wird uns geschrieben:
Zunächst ist das D ns e-G a stspiel zu erwähnen. Wer
noch vor einigen Jahren in Turin sür ein paar Centesimi die
Duse gesehen, immerhin als vorzügliche, aber doch als un-
berühmte Schauspielerin, der mußte sich wohl mit Recht sragen,
wenn er jetzt den für schweres Geld sauer genug erworbenen
Sitz einnahm — was hat die Duse berühmt gemacht? Wie
ist es gekommen, daß sie plötzlich in den letzten zwei Jahren
solch unerhörte Triumphe seiert? Zndem ist ja doch das
Verständnis ihres Spiels durchaus nicht leicht, ganz abgesehen
davon, daß nicht viele des Jtalienischen derart mächtig sind,
um ihr solgen zu können, und daß nur sehr wenige die Be-
deutung ihrer Knnst im Rahmen des bisher Gebotenen zu
ermessen vermögen. Und dennoch jubelt ihr alles zn. Warum?
„Sie hat die Form erneut." — Unzweifelhaft. Aber das
thut jeder Künstler, sonst ist er eben kein Künstler. Das allein
kann der Grund ihres so außergewöhnlichen Erfolges nicht
sein. Jch habe Frau Duse -llias Fran Cheschi gesehen als
Violetta, Santuzza, Locandiera und Magda. Vollendet! Aber
trotz der neuen Form durchaus nicht unerreicht, besonders
nicht als Magda. So sehr sie es sonst vermocht, mich glauben
zn machen, als Magda glaubte ich ihr nicht mehr — wenigstens
nicht überall. Daß sie als Locandiera gefiel, ist selbstverständlich.
Was hier gefallen muß, ist die krystallene Klarheit, die durch
nichts getrübte Heiterkeit, welche schon in Goldonis Figur
drinsteckt, mit Mozartharmonien zu vergleichen. Aber das ist
noch nicht die charakteristische, die eigentliche, neue, faszinirende
Duse-Kunst. Die kam erst zur Geltung in der Kameliendame
und in Vergas OavLllsriL rustisLHL.
Und da ging es mir auf: Der Duse Erfolg ist nur möglich
durch das Verlangen einer Reaktion gegen die bisherige
Bühnenschule; ihre Kunst gefällt vor allem auf der Folie der
bisherigen Darstellungsweise, sie gefällt zunächst als Ver-
neinung; und sie gesällt nur denen, die übersättigt sind von
dem alten hohlen Bühnenton, von dem bisherigen Suchen nach
Effekt, von der Schauspieler-Meinung, daß tragische Erregung
nur möglich sei durch starke Herausarbeitung einzelner Züge.
Wo jedoch noch nicht Übersättignng ist an dieser Art der
Modellirung, da gefällt auch die Dnse nicht, da wird sie nicht
verstanden. Darum auch hatte ihr Gastspiel in Rußland kaum
Erfolg, darum wurde ihre „Größe" erst bei uns entdeckt, bei
denen die junge Dichterschule die Forderung einer Verein-
sachung der Darstellungsart gestellt, und bei denen diese For-
derung sehnenden Widerhall gefunden. Wem aber die alten
Ansdrucksmittel noch nicht zu „übertriebenen", „ausdringlichen"
geworden sind, dem wird dies einfache, selbstlose Duse-Spiel
„mllde" und „einförmig", dem wird die ungezwungene, ohne
starke Betonungen dahin fließende Umgangssprache als „gleich-
gültig" und „inonoton" erscheinen, dem wird das Ganze
„langweilig" vorkommen, wo es uns „reizvoll" dünkt, weil
es die ersehnte Befreinng vom Alten bringt. Und wie viele
haben dagesessen, die nur applaudirt, weil die Duse einmal in
Mode gekommen, die aber herzlich gelangweilt waren, bis aus
diejenigen Stellen, wo ein plötzlicher Jmpuls die Schauspielerin
mit sich fortriß und ihr Spiel daher dem allgemeinen Ver-
ständnis näher kommen mußte. — Jch habe eine große Schau-
spielerin der ältesten Schule, die aber noch ab und zu austritt,
beobachtet: sie hatte bloß ein Schütteln des Kopfes sür diese
Art von „Kunst".
Natürlich: Neben diesem Gefallen an der Berneinnng des
Bisherigen steht dann auch die Freude an der künstlerischen
Gestaltungskraft der Duse. Daraus brauche ich kaum hinzu-
weisen. Als Violetta, als Santuzza hat sie neue Formen sür
den bekannten Jnhalt gefunden, neue bewunderungswürdige
Formen, deren Rückwirknng auf unser ganzes Bühnenspiel wir
wohl bald Gelegenheit haben werden zu beobachten. —
Unser akademisch-dramatischer Verein, der sich unter der
Regie der Herren Ernst von Wolzogen und Karl Werckmeister
vom Dilletantismus eines Liebhabertheaters zu einer „sreien
Bühne" emporgeschwungen hat, erwarb sich ein künstlerisches
Verdienst mit der Vorführung dreier Neuheiten: „Zu Hause"
von Georg Hirschfeld, „Musotte" von Maupassant und „Der
ungebetene Gast" (lüimruse) von Maeterlinck. Der „Akt" des
Herrn Hirschseld, im letzten Jahrgang der „Freien Bühne
sür den Entwicklungskampf der Zeit" zuerst veröffentlicht, er-
rang sich ungeteilten Beisall. Er zeugt unzweifelhaft von
Talent. Und wenn etwas zu bedauevn bleibt, so ist es dies,
— rsi
nießens bedeutet. Wir haben ja gerade in der deutschen
Literaturgeschichte der Beispiele iibergenug davon, daß sür die
Gemeinde die Auslegung des Predigers schließlich maßgebender
wnrde, als der Bibeltext. Für die Wirkung auf weitere Kreise
lob ich mir deshalb als Vermittler jene bescheidenern Geister,
die sozusagen ihre Gedanken dreimal in der Hand umdrehen,
ehe sie sie ausgeben, nnd sich hüten etwas zu sagen, von dem
nicht ganz klar ist: der Dichter hat gewollt, daß es erkannt
werde.
Jch gestehe, von seinem Goethe-Buch her eine gewisse
Vorliebe gerade sür Lewes zn haben, der zu den Deutern mit
Prophetenblick ja gewiß nicht, sicherlich aber zu den verdienst-
lichsten Verkündigern des Schönen sür weitere Kreise Knnst-
bedürftiger gehört. Eine gewisse Vorsicht, die nicht aus
Nüchternheit stammt, hat ihn dort mancher Modetheorie gegen-
über die Augen jenes „gesunden Menschenverstandes" offen
halten lassen, den wir wohl nirgend zur herrschenden Majestät
machen, dem wir aber ein Amt als vortragende Exzellenz
überall gewahrt wissen möchten. Jch erinnere an Lewes'
Stellung zu dem zweiten Teile des Faust, vor dem er die
Anforderungen der Kunst besonnener im Auge behalten hat,
als gar viele nnd hoch gelobte Männer. Auch sein Buch über
Shakesperes Frauengestalten wird solchen Männern nnd Frauen
und insbesondere solchen Jünglingen und Mädchen ein em-
psehlenswerter Führer sein, die zu eigenem starken Verhältnis
zum Meister des Dramas noch nicht gediehen sind. Nach einer
gnt unterrichtenden Einleitung über „die Zeit Shakesperes"
und einer zweiten über die englische Bühne bis zu seinem
Auftreten wird die Charakterschilderung der wichtigern Frauen-
gestalten an der Handlung und dem Dialog der einzelnen
Werke entwickelt. Die Ausgabe, Neues zu bringen, stellt sich
dabei der Verfasser nicht; „er bildet sich vielmehr ein, er habe
mit seinen Lesern eine herrliche genußreiche Reise gemacht und
wolle nun die gemeinsamen schönen Erinnerungen anffrischen
und in Zusammenhang bringen." Bei der Wärme seiner Teil-
nahme am Stoffe, bei der Abwesenheit eines pedantischen
Unterweisens und von Schulmeisterei in jedem Sinne über-
haupt gelingt ihm das völlig befriedigend. Und er erreicht so
auch das, was er als seinen zweiten Zweck bezeichnet: am
Beispiele des tiefsinnigsten Dramatikers den Lesern anschaulich
zu machen, wie wenig höchster „Realismus" und höchster
„Jdealismus" Gegensätze sind. Hätten wir von Lewes ein
gemeinverständliches Buch über Shakespere, das sich nicht so
sehr auf die weibliche Hälste der Menschheit beschränkte, noch
vorgezogen, so dürfen wir nach dem Gesagten doch auch das
erschienene als eine ungewöhnlich nützliche Bereicherung unserer
Literatur immerhin recht willkommen heißen. — u —
Tbeater.
* Micbttgere Scbausptel--Aukkübrungen. 60.
Aus München wird uns geschrieben:
Zunächst ist das D ns e-G a stspiel zu erwähnen. Wer
noch vor einigen Jahren in Turin sür ein paar Centesimi die
Duse gesehen, immerhin als vorzügliche, aber doch als un-
berühmte Schauspielerin, der mußte sich wohl mit Recht sragen,
wenn er jetzt den für schweres Geld sauer genug erworbenen
Sitz einnahm — was hat die Duse berühmt gemacht? Wie
ist es gekommen, daß sie plötzlich in den letzten zwei Jahren
solch unerhörte Triumphe seiert? Zndem ist ja doch das
Verständnis ihres Spiels durchaus nicht leicht, ganz abgesehen
davon, daß nicht viele des Jtalienischen derart mächtig sind,
um ihr solgen zu können, und daß nur sehr wenige die Be-
deutung ihrer Knnst im Rahmen des bisher Gebotenen zu
ermessen vermögen. Und dennoch jubelt ihr alles zn. Warum?
„Sie hat die Form erneut." — Unzweifelhaft. Aber das
thut jeder Künstler, sonst ist er eben kein Künstler. Das allein
kann der Grund ihres so außergewöhnlichen Erfolges nicht
sein. Jch habe Frau Duse -llias Fran Cheschi gesehen als
Violetta, Santuzza, Locandiera und Magda. Vollendet! Aber
trotz der neuen Form durchaus nicht unerreicht, besonders
nicht als Magda. So sehr sie es sonst vermocht, mich glauben
zn machen, als Magda glaubte ich ihr nicht mehr — wenigstens
nicht überall. Daß sie als Locandiera gefiel, ist selbstverständlich.
Was hier gefallen muß, ist die krystallene Klarheit, die durch
nichts getrübte Heiterkeit, welche schon in Goldonis Figur
drinsteckt, mit Mozartharmonien zu vergleichen. Aber das ist
noch nicht die charakteristische, die eigentliche, neue, faszinirende
Duse-Kunst. Die kam erst zur Geltung in der Kameliendame
und in Vergas OavLllsriL rustisLHL.
Und da ging es mir auf: Der Duse Erfolg ist nur möglich
durch das Verlangen einer Reaktion gegen die bisherige
Bühnenschule; ihre Kunst gefällt vor allem auf der Folie der
bisherigen Darstellungsweise, sie gefällt zunächst als Ver-
neinung; und sie gesällt nur denen, die übersättigt sind von
dem alten hohlen Bühnenton, von dem bisherigen Suchen nach
Effekt, von der Schauspieler-Meinung, daß tragische Erregung
nur möglich sei durch starke Herausarbeitung einzelner Züge.
Wo jedoch noch nicht Übersättignng ist an dieser Art der
Modellirung, da gefällt auch die Dnse nicht, da wird sie nicht
verstanden. Darum auch hatte ihr Gastspiel in Rußland kaum
Erfolg, darum wurde ihre „Größe" erst bei uns entdeckt, bei
denen die junge Dichterschule die Forderung einer Verein-
sachung der Darstellungsart gestellt, und bei denen diese For-
derung sehnenden Widerhall gefunden. Wem aber die alten
Ansdrucksmittel noch nicht zu „übertriebenen", „ausdringlichen"
geworden sind, dem wird dies einfache, selbstlose Duse-Spiel
„mllde" und „einförmig", dem wird die ungezwungene, ohne
starke Betonungen dahin fließende Umgangssprache als „gleich-
gültig" und „inonoton" erscheinen, dem wird das Ganze
„langweilig" vorkommen, wo es uns „reizvoll" dünkt, weil
es die ersehnte Befreinng vom Alten bringt. Und wie viele
haben dagesessen, die nur applaudirt, weil die Duse einmal in
Mode gekommen, die aber herzlich gelangweilt waren, bis aus
diejenigen Stellen, wo ein plötzlicher Jmpuls die Schauspielerin
mit sich fortriß und ihr Spiel daher dem allgemeinen Ver-
ständnis näher kommen mußte. — Jch habe eine große Schau-
spielerin der ältesten Schule, die aber noch ab und zu austritt,
beobachtet: sie hatte bloß ein Schütteln des Kopfes sür diese
Art von „Kunst".
Natürlich: Neben diesem Gefallen an der Berneinnng des
Bisherigen steht dann auch die Freude an der künstlerischen
Gestaltungskraft der Duse. Daraus brauche ich kaum hinzu-
weisen. Als Violetta, als Santuzza hat sie neue Formen sür
den bekannten Jnhalt gefunden, neue bewunderungswürdige
Formen, deren Rückwirknng auf unser ganzes Bühnenspiel wir
wohl bald Gelegenheit haben werden zu beobachten. —
Unser akademisch-dramatischer Verein, der sich unter der
Regie der Herren Ernst von Wolzogen und Karl Werckmeister
vom Dilletantismus eines Liebhabertheaters zu einer „sreien
Bühne" emporgeschwungen hat, erwarb sich ein künstlerisches
Verdienst mit der Vorführung dreier Neuheiten: „Zu Hause"
von Georg Hirschfeld, „Musotte" von Maupassant und „Der
ungebetene Gast" (lüimruse) von Maeterlinck. Der „Akt" des
Herrn Hirschseld, im letzten Jahrgang der „Freien Bühne
sür den Entwicklungskampf der Zeit" zuerst veröffentlicht, er-
rang sich ungeteilten Beisall. Er zeugt unzweifelhaft von
Talent. Und wenn etwas zu bedauevn bleibt, so ist es dies,
— rsi