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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1919)
DOI Artikel:
Lange, Konrad von: Die Illusion im Theater, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0133
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störender empfunden werden, und da durch ein Zusammenfallen des Bühnen--
bildes mit der Natnrvorstellung die Phantasie des Zuschauers nur gehemmt und
unterbunden wird. Die Aufgabe ist vielmehr, etwas zu schaffen, was mit der
Borstellung, die wir von der Natnr haben, nicht von vornherein völlig über°
einstimmt, sondern selbständig neben unsere Aaturerinnerung tritt, so daß
wir uns aus ihm vermittelst ünserer Phantasie die Naturvorstellung entwickeln
können. Denn gerade in dieser Lntwicklung, d. h. in dieser Phantasietätigkeit,
die ja einen schöpferischen Lharakter hat, besteht das Wesen des künstlerischen
(Kenusses.

Diese Auffassung steht, wie man leicht sieht, in einem Gegensatz zu dem
Prinzip der Illusionsbühne, das bis zum Anfang unsres Iahrhunderts überall
herrschte, und für die noch neuerdings Alt besonders im Gegensatz zu Hage-
mann und der Mannheimer Regie mit Entschiedenheit eingetreten ist.* Richard
Wagner und die Meininger, die Hauptvertreter der Illusionsbühne,
haben nach der neneren Auffassung den Fehler gemacht, vom Bühnenbilde den
denkbar höchsten Grad von Natürlichkeit zn verlangen. Zwar ist auch bei
ihnen die Täuschung, der sich der Zuschauer hingibt, eine bewußte, insofern
das Podium der Bühne, die Kulissen und Sofitteu, die flächenhafte Aus-
führung der Prospekte und Versatzstücke usw. doch immer wieder daran erin-
nern, daß man es nicht mit Wirklichkeit, sondern mit Schein zn tun hat.
Aber in der künstlerischen Ausführung der Bühnenszenerie fordern sie absolute
Wahrheit bezw. historische Richtigkeit. Die Illusionsbühne war eben ein
Erzeugnis der naturalistischen Bewegung, sie konnte sich nur in einer Zeit
entwickeln, die auch in der übrigen Kunst die denkbar größte Naturwahrheit
— selbst auf Kosten des Stils — forderte. War es doch gerade damals, wo
Ibsen im Drama nur die Prosa anstatt des Verses für berechtigt halten wollte,
weil — die Menschen im Leben nicht in Versen sprächen. Erst mußte die Reaktion
gegen den Naturalismus — in Gestalt des „Neuidsalismus" oder „Neu-
klassizismus" oder der „Stilkunst" — kommen, ehe die Künstlerbühne oder
die Reform- oder Reliefbühne — wie man sie nun nennen will — ausgebildet
werden konnte. Wir beobachten hier also einen periodischen Wechsel der
künstlerischen Anschauungen, der durch die verschiedenen Möglichkeiten des Ver»
hältnisses zur Natur bedingt ist. llnd gerade diese Periodizität der Entwicklung
ist der schlagcndste Beweis für die Richtigkeit der Illusionstheorie. Denn dicse
lehrt ja, daß die ästhetische Anschauung aus einer Zweiheit von Vor-
stellungsreihen besteht, deren eine sich auf den Inhalt des Dargestcllten,
d. h. die Natur, die andere auf die Form der Darstellung, d. h. auf die Kunst
bezieht. In bezug auf die Stärke, in der diese beiden Vorstellungsreihen oder
Gefühlsreihen erlebt werden müssen, stellt die Illusionsthcorie keine Forderungcn
auf. Man kann ja wohl als Idcal das gleich starke Erleben der bciden
Reihen bezeichnen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß dieses Ideal
nur selten errcicht wird, vielmehr in realistischen Kunstperioden die Vorstellungs-
reihe Natur, in idealistischen oder stilisierenden die Vorstellungsreihe Form oder
Stil stärker hervortritt. Die Lntwicklung der Kunst besteht eben in diesem
Wechsel. Sie ist wie eine Wage, an der einmal die eine, das andere Mal
die andere Schale herabsinkt. Dabei wird das stärkste Herabsinken immer von
gewissen Abertreibungen begleitet sein. Eine solche war z. B. der krasse Natura-
lismus der Illusionsbühne. Eine solche ist aber auch die einseitige Stilisierung
und Abkehr von der Natur, wie wir sie jetzt z. B. im Expressionismus, bessev
Primitivismus, erleben.

Tübingen Konrad Lange

(Schluß folgt)

* Die Illusion der Schaubühne, von Dr. Theodor Alt, W2.
 
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