Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1921)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Auf dem Weg zur neuen Mitte: Berliner Brief
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0118
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
letzten Nachrichten nicht gerade beruhigend lanten. Aber man sieht, wie
unsäglich schwer man sich in Deutschland zu absoluten politischen Notwen-
digkeiten entschließt. Man muß nur das Verhalten von Lloyd George in
der nicht minder ernsten irischen Frage und der Frage der englischen Ar<-
beitslosigkeit vergleichen, um zu sehen, wie unendlich viel schwerfälliger der
deutsche Apparat der Parlamentsspielerei arbeitet. Wie umständlich und
feierlich, wie sorglos um die brennende Not sind die deutschen Verhand»
lungen über die Regierungsbildung, wo Preußen dem Reich und das
Reich Preußen den Vortritt zuschiebt und alle Beteiligten ihre Feierlichkeit
und Wichtigkeit, ihre Vorbehalte und Winkelzüge bis auf den letzten Rest
ausgenießen. Geht es nicht vorwärts, so vertagt man, genau so wie man
Papiergeld druckt, wenn man finanziell nicht weiter weiß.

Mit diesem Letzteren ist ein weiterer Punkt berührt, der mit der Mitte-
bildung eng zusammenhängt, freilich auch weit über sie hinausdeutet. Von
der Mittebildung und Regierungsfestigkeit hängt jede Möglichkeit eines
deutschen Kredits und damit auch zu eiuem erheblichen Teil die Milderung
des Valuta-Elends zusammen. Ich habe die Finanzfrage stets als den
dunkelsten Hintergrund aller Geschehnisse bezeichnet und zugleich stets meine
völlige Rat- und Hilflosigkeit bekannt. Ich hätte auch sagen können, daß
ich mir nur österreichische Zustände und den Staatsbankerott als Ender-
gebnis von dem allem denken kann. Aber da niemand anders diese Sorgen
so zu teilen schien, schob ich meinen Pessimismus auf meine Laienhaftigkeit
und vermied solche Formulierungen. Heute wird diese Sorge in allen
Kreisen von Sachverständigen ganz offen besprochen. Es sei die Folge der
Reparationen und mangelnden Kredits. Die Optimisten sind es nur, weil
sie an ein schließliches Eingreifen der Entente in diesen ihr selbst tödlichen
Circulus vituosus glauben. Auch eine weitere Erscheinung bringt diese Fi-
nanznot, dasAnerbieten der Bank- und Finanzkreise, mit ihrem Privatkredit
dem Reiche beizustehen. Das würde, weiter ausgedacht, eine recht wichtige
Entwicklungslinie andeuten: der Staat wird abhängig von den großen
Wirtschaftskörperschaften, die seine unzulängliche und uneintreibbaren
Steuerkünste ganz beiseite lassen und ganz direkt den Staat unter ihreHilfe
und dann natürlich auch Vormundschaft nehmen. Sollten die eben im
Gang befindlichen gewaltigen industriellen Konzentrationen erst einmal
wirklich sichtbar und fühlbar werden, so würde das eine wirtschaftlich-soziale
Entwicklung andeuten, von der weder die Sozialdemokraten noch die staats-
begeisterte bürgerliche Theorie des Einheitsstaates sich etwas hat träumen
lassen. Dann würden wir vor allem Wirtschaftsprovinzen bekommen, die
sich mit Staat und Ausland von sich aus verständigen und neben denen
die Parlamente und die Staatsgewalt überhaupt erst eine zweite Rolle
spielen. Wirtschaftliche und politische Theoretiker malen bereits diese Mög-
lichkeiten phantastisch aus. Lin kluger Politiker wie Professor Bonn hält
es für nötig, in seinem neuesten Buch vor solcher Zersetzung und Auflösung
der von den großen absolutistischen Zeiten geschaffenen Staatsidee zu
warnen. Ein Artikel von Gerhart Hildebrandt in der Hilfe (Nr. 27) rechnet
dagegen hiermit als mit der Tatsache der Zukunft und hält infolgedessen
das neue sozialdemokratische Programm von Görlitz für totgeboren. Noch
ist das freilich nicht Wirklichkeit und noch brauchen wir dringendst den
Staat und, wenn er unter gegenwärtigen Verhältuissen Kraft und Autorität
haben soll, eine ihn ermöglichende Mitte. Aber auch für die Zukunft können
diese Träume nur in Erfüllung gehen, wenn der gleiche Prozeß in den

N
 
Annotationen