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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 4 (Januarheft 1922)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0296
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nmlige Geburt? — so ahncn sie —
verstößt ihre Aewohnheit, sich als
Reihenfabrikat zu fühlen, in den
Wahnsinn. Als Ersatz für Persönlich-
keit begnügen sie sich mit Mode.

Betrieb. Lebensersatz. Kinowürdig
und auch gern gefilmt. Für Bild —
Plakat. Für Gepäck — Extrablatt. Für
stilles Ruhen am Weg — die Likör-
stube. Für die Horizontsehnsucht der
Augen — die erhobene, Halt oder
Marsch befchlende Schutzmannshand.

Symptome für untergangslustige Bü°
chsr, oder betrübte Nascn, die keine
Mitterung mehr aus „guter alter Zeit"
erschnnppcrn, oder vergnügt flatternde
buntseidene Schals übcr konjunkturbe-
sohlten Spitzschuhen.

Aber mitten darin grauenvoll mo-
noton, nicht erfaßt vom Saugstrom
der Kanalisation, beziehnngslos über
dem Pulsschlag dcr großen Geschäfte
„Geld" und der kleincn Geschäfte:
„Liebe" kreischt die Kreissäge:

„Maccosenkel, Ledersenkel...
prima Ware."

In dieser Gestalt ist der Betrieb bercits
erfroren. Wie in so vielen Häusern
dieser Stadt, die nur uoch eine Anord-
nung von Ziegelsteinen und Balken ist,
die den Meister, der sie band, zu ver-
leugnen beginnen.

Viele Vettler nnd viel Elend stchen
an den Ecken. Was blind ist, hascht
mit Ohrcn uach den Vorüberguellen-
deu. Was stumm ist, schreit in Gebär-
den. Dicse gehören noch ganz zu uns,
zu Pelz, Arbeitskittel und Rock. Wenn
auch örtlich gebundcn, jagt ihre Gier
Fangarme und raffinierte Kunst übcr
dcn Platz. Springt den anderen um
Mitleid an, wie dieser den nächsten um
Ehre, Achtung oder Furcht vor Gewalt.

Die dort an dem hohen, stattlichen
Hause lehnt, ist ganz fremd. Karyatide
sozialer Not? — Keineswegs. Sie
erntet sicher viel mehr als ich.^dcr ich
manchmal den Pelz trage. Seelische
Verkommenheit? — Keineswegs. Lrä-
test du mit einer gütigen Frage um
Kinbheit, Verstoßung aus dem Kreis der
Gewohnsamen oder Anteil an kälten
Frostabenden an sie heran — keiu Auge
täte sich dir auf, kein Schluchzeu drängte
sich an deine Geborgenheit, kein Stolz
mühsam ertragener Verlasscnheit
würde abwchren. Heiser, uncrbittlich

würde der rötlich durchglühte Dämme-
rungsnebcl dich anbellen: Maccosenkel»
Ledersenkel... prima Ware — immer
wieder hinfriereu über deine Furcht vor
dem Nichtertastbaren.

An einem Herbstabend, dessen far-
biger Dunst das Zusammengehörige zu
still atmenden Körpern vereint, offen-
barte 'sich mir das Geheimnis. Der
Betrieb erschien vermenschlicht. Der ge-
waltige Amschlagplatz anatomisch be-
wegter Ware setzte auch einige Ballen
Besinnlichkeit, Innehaltcn, Herzhorchen
um. Da wich das Leben vor dieser Ge-
stalt geängstet zurück, die in den Granit
verwurzelte, auf dem sie stand und sich
verzweigte in den Stein, an dem sie
lchnte. And ich erkannte, daß diese
Stadt selbst unter uns getreten war.
Ich erkännte, daß sie sich vom Men-
schen, der sie lange Zeit gcformt und
an sein Schicksal gebundeu hatte, ent-
fesselt hatte, daß sie ausgebrochen war
wie ein Raubtier, das plötzlich seine
Pranken stärker weiß als die Eisenstäbe
des Käfigs. Ein Schicksal mit der Kraft,
zu verdammen und zu erheben. Ien-
seits unseres Begreifens. Mit einem
unstillbaren Hunger nach Hirnen, die
sie durch die Monotonie des gleichen
Schreis tähmt. Ein Gedanke, dcn der
Mensch berief, der übrr die Fassungs-
kraft dcs Meisters hinauswuchs, selb-
ständig wurde und nun blind, kalt uud
unerbittlich sich feindlich gegen dcn
Schöpfer kehrt, dem die Äberlegenheit
des Gestalters entglitt. Weil er sein
Ich dem Du des Stoffes aufhöhnte.
Weil er den Stein, dcr sich ihm bot,
erklärbar fand. Weil ihm sein Haus
uud die Straße, an die es grenzt, zu
selbstverständlich knechtisch ward.

WernerIlling

Für Rußlands Hungernde

An alle Künstler nnd geistig
Kämpfenden in Deutschland.

reunde, — wir Künstler, Dichter
O und Schriftsteller in Deutschland,
die in dieser Zeit nicht viel Schonung
und Hilfe und weder Aufrichtung noch
Freude finden, sondern in Ehrfurcht
oder in Lästerung diese Zeit der Prü-
fung erleben, die übcr alle gekommen
ist; die wir selbst untereinaudsr uneins
nnd zuweilen verbittert siud uud man-

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