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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 4 (Januarheft 1922)
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Troeltsch, Ernst: Die Amerikanisierung Deutschlands: Berliner Brief
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0295

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gebnis der Revolution gefeiert hatte. Diese Synthese von Amerikanis-
mus, ständischer Romantik und Nietzsches Führerkultus wird nicht lange
dauern. Was aber dann? Die deutsche Geistesgeschichte kennt keine grad-
linigen Entwicklungen, und daher stammt der widerspruchsvolle Charakter
des Deutschen, den alle Ausländer fast einstimmig als eigentlichstes „deut-
sches Wesen" bezeichnen. Heute werden wir wieder zwischen den verschie-
densten Geistesmächten hin und her geworfen. „Charakter (im kulturellen
Sinne) haben und deutsch sein" war ohne Zweifel immer schwierig. Es
ist heut schwieriger als je, wenn man darunter nicht hemmungsloses Pol-
tern versteht.

Berlin, (2. Dezember Ml- Troeltsch

Vom tzeute fürs Morgen

Der versteinte Gedanke

n der Mündung der Königsgrätzer-
straße in den Potsdamcrplatz stand,
so ost ich vorüberging, ein (es fehlt mir
die rechte Bezeichnung) — Wesen an
die Maucr eines stattlichen Hauses ge-
lehnt und schrie unanfhörlich mit hei-
serer unpersönlicher Stimme: „Macco-
senkcl, Ledcrsenkel ... prima Mare.
Maccosenkcl, Ledersenkel . . . prima
Ware . . ." Von der linken Hand
hingcn einigc Büschel schwarzer Fäden
herab, die niemand beachtete. Die
Rechtc empfing in erstarrter Gewohn-
hcit kleine Almosengaben und ließ sie
mechanisch in einer Falte des Kleides
verschwinden. Nach dem Rock nnd den
aufgesteckten Haaren zu urtcilen, war
dieses Wesen eine Frau. Aber nie sah
ich cin Gesicht, von der Stunde dcr Ge-
burt in Unschuld empfangen und von
den Leiden der Iahre in Wissen ge-
kerbt — nur eine dunkle, hastig klap-
Pende öffnung, aus der ohne Bewußt-
scin und Sinn die gleichen Worte
knarrtcn. And nie sah ich Hände, die
irgcndeinmal nach Träumen greifen
oder gcstillt über einer Sehnsucht
ruhen würden —nur zwei Maschinen-
glieder, das eine als Klammer, das
andcre als beweglichcr Schöpfer kon-
struiert.

c» 1"^' daß in diesem Teil von

Berlin am meisten Lebcn hcrrsche.
Zunundest Vewegung. Od-r viclleicht
am besten: Betrieb. Menschen. — gleich-
gültig ob im Pelz und mit steifen
Hüten, oder im Arbeitskittel, odcr in
Uniform, oder mit kurzcn Röcken und
phantasieleitenden Seidenstrümpfen,

werden verschoben wie Ware. Fort-
während werden die Speichcr geräumt
und mit neuen Artikeln gefüllt. Da
geht dcr Arbciter aus, man stopft dasür
einen Börsiancr ins Schubfach. Dort
ist die Ware Offizier vergriffen, man
knüllt eine Packung Tippfräulein in die
leere Lade. Dort wird dsr Diplomat
sclten, man ersetzt durch den Parla-
mentarier.

Iede Fracht besitzt ihren eigenen
Apparat, um den Platzwechsel schnell
und sicher durchzuführen, wie die
Sprengladnng des Torpedos ihre eigeno
Antriebsschraube hat.

Daran ist nichts Besonderes.

Betrieb. Komprimiert in Autos,
Straßenbahnen, Rollfuhrwerke und
den Menschen-atmendcn Schacht dcr
Untergrundbahn. Und dennoch. So°
viel Zahnradexaktheit und fühllose Prä-
zision die einzelne Berufsmaschine —
von der Großstadt in Serien von tzun-
derttausenden hergestellt — zielwärts
treiben, irgendwie blieb eine Spur
Sonntag, Abend am See, Gespräch mit
dem Freund, Vuch, HLngen. In den
gehetzten Augen, die dcn Raum zu
Häcksel zerschneiden, lebt eine Tiefe,
die das Senkblei dcr Zweckmäßigkeit,
des Profits nicht auslotet. Es gibt
Stunden, in denen diese ohnmächtig
gewirbelten Atome sich crinnern, daß
sie einen Ramen tragen, der anders
scheidet als der Unterschied der höhercn
oder niederen Ordnungszahl in der
Summierung zur stadtbildenden Masse.
Allerdings haben die meisten Furcht
vor dicsen Augenblicken. Die klare
ruhige Frage: Mensch? — und: ein-
 
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