hat, die wahrhaft volkstümlich geworden ist, die einzige, die wir überhaupt
besitzen. Und bedeutet eine einzige Oper, die dem Volk gehört, nicht mehr
als ein Dutzend andere in den Notenschränken weniger Musikliebhaber be-
deuten? Artur Liebscher
Schaudern und Lachen
Zum Thema Zille
sich mit Zille noch nicht näher beschäftigt hat, denkt bei seinem
H ^Namen an einen „Witzzeichner" berlinischer Farbe, wie andre eben
auch. Die aufmerksame Betrachtung eines einzigen Bildes, wie des
ersten unserer Reihe, genügt, um diesen Gedanken beiseite zu schaffen. Eine
vernachlässigte, klinkerisch hergerichtete Kleine-Leut-Stube mit drei Kindern,
in die der Vater mit einer Straßendirne tritt. Auf dem ärmlichen Bett seine
Alteste, auch noch recht klein, die das Allerjüngste wartet. „Vata", ruft sie
aufgeregt, „denke dran, wat du Muttern versprochen hast — aba ick jeh'
nach'n Kirchhof, ick sag 'et ihr!" Was alles tut sich auf, und nicht nur an
Gemeinheit! Gerade der Witz spielt hier nicht einmal eine Nebenrolle.
Man zeige mir aus der gesamten berlinischen „Witzbilder"--Zeichnerei ein
zweites, das so erschütternd ist und nicht etwa auch wieder von Zille
stammt! Ich bringe noch ein paar Seitenstücke zum Thema sozialer Iam-
mer, bei denen über Stimmung und Absicht kein Zweifel bleiben kann.
Kein Zweifel auch darüber, daß sie „tendenziös" sind. Dagegen: was sofort
auffällt, ist die vollkommene Abwesenheit von irgendwelchem Pathos, es
sei denn, es gehöre welches zum Stoff, falsches, dem es dann übel geht,
wie dem des mit allen Muskeln um den Lrfolg turnenden Rechtsanwaltes.
Ist das nicht ein Stück, das, ganz und gar selbständig, doch die besten
Advokatenstücke von Daumier an Schlagkraft mindestens erreicht, an Charak-
teristik der Linzelgestalten vielleicht noch übertrifft? Wie ist auch dieser
Verbrecher gesehn, wie der Gerichtsdiener slawischen Geblüts, und wie sind
ihre drei „Temperamente" zueinander gestellt! Es lohnt sich bei Zille durch-
aus, der Zeichnung bis ins Kleinste auf den Ausdruck nachzugehn. Was
gibt z. V. das Gesicht des „Aftermieters" mit den umgehängten „Kruken«
alles zu lesen! Sogar die kleinen Kindergesichter hinter dem fürchterlichen
deibe, zu dem er spricht, schildern noch in den Tiefen. Nnd diese
„Miliöhs"! Der Schnapsdunst (ich meine den sittlichen) in der Geburtstag-
stube mit dem mildgestimmten Vater, das Kleinleutemilieu bei der Näherin,
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besitzen. Und bedeutet eine einzige Oper, die dem Volk gehört, nicht mehr
als ein Dutzend andere in den Notenschränken weniger Musikliebhaber be-
deuten? Artur Liebscher
Schaudern und Lachen
Zum Thema Zille
sich mit Zille noch nicht näher beschäftigt hat, denkt bei seinem
H ^Namen an einen „Witzzeichner" berlinischer Farbe, wie andre eben
auch. Die aufmerksame Betrachtung eines einzigen Bildes, wie des
ersten unserer Reihe, genügt, um diesen Gedanken beiseite zu schaffen. Eine
vernachlässigte, klinkerisch hergerichtete Kleine-Leut-Stube mit drei Kindern,
in die der Vater mit einer Straßendirne tritt. Auf dem ärmlichen Bett seine
Alteste, auch noch recht klein, die das Allerjüngste wartet. „Vata", ruft sie
aufgeregt, „denke dran, wat du Muttern versprochen hast — aba ick jeh'
nach'n Kirchhof, ick sag 'et ihr!" Was alles tut sich auf, und nicht nur an
Gemeinheit! Gerade der Witz spielt hier nicht einmal eine Nebenrolle.
Man zeige mir aus der gesamten berlinischen „Witzbilder"--Zeichnerei ein
zweites, das so erschütternd ist und nicht etwa auch wieder von Zille
stammt! Ich bringe noch ein paar Seitenstücke zum Thema sozialer Iam-
mer, bei denen über Stimmung und Absicht kein Zweifel bleiben kann.
Kein Zweifel auch darüber, daß sie „tendenziös" sind. Dagegen: was sofort
auffällt, ist die vollkommene Abwesenheit von irgendwelchem Pathos, es
sei denn, es gehöre welches zum Stoff, falsches, dem es dann übel geht,
wie dem des mit allen Muskeln um den Lrfolg turnenden Rechtsanwaltes.
Ist das nicht ein Stück, das, ganz und gar selbständig, doch die besten
Advokatenstücke von Daumier an Schlagkraft mindestens erreicht, an Charak-
teristik der Linzelgestalten vielleicht noch übertrifft? Wie ist auch dieser
Verbrecher gesehn, wie der Gerichtsdiener slawischen Geblüts, und wie sind
ihre drei „Temperamente" zueinander gestellt! Es lohnt sich bei Zille durch-
aus, der Zeichnung bis ins Kleinste auf den Ausdruck nachzugehn. Was
gibt z. V. das Gesicht des „Aftermieters" mit den umgehängten „Kruken«
alles zu lesen! Sogar die kleinen Kindergesichter hinter dem fürchterlichen
deibe, zu dem er spricht, schildern noch in den Tiefen. Nnd diese
„Miliöhs"! Der Schnapsdunst (ich meine den sittlichen) in der Geburtstag-
stube mit dem mildgestimmten Vater, das Kleinleutemilieu bei der Näherin,
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