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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
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Troeltsch, Ernst: Auf dem Weg zur neuen Mitte: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0114

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Auf dem Weg zur neuen Mitte

Berliner Brief

schwere drohende Gefahr einer völligen Zerbröckelung der die Re-
>-H^gierung tragenden Mitte, der Unmöglichkeit der Regierungsbildung
und irgendwie stabiler Regierungspraxis, der beständigen Verschie--
bung aller dringend notwendigen gesetzgeberischen und Verwaltungsauf--
gaben, der Zerreißung des Volkes in Sozialisten und Antisozialisten, des
Bürgerkrieges und des Eingriffes der Franzosen im Osten und Westen:
alles das ist allmählich in ziemliche Breiten des allgemeinen Bewußt-
seins eingedrungen, soweit dieses nicht vorzieht, alles Elend nur einfach
auf die Anterlassung der radikalkommunistischen Amwälzung oder auf
die schlechte Berliner Iudenregierung zurückzusühren und sich jedes Ge-
dankens an die realen Verhältnisse zu entschlagen. Die Ermordung Erz-
bergers hat diese Tatsache grell beleuchtet, der Reichsregierung Mittel und
Mut zu entscheidenden Eingriffen gegeben und den Parteien die Augen
geöffnet.

Die Folge von alledem ist zunächst einmal die Lüftung des bayerischen
Schildes, wo sich hinter dem bayerischen Föderalismus ganz andere Ele-
mente, Kappisten, Faszisten und Gegenrevolutionäre gedeckt hatten. Als
der Reichskanzler mit dem Sicherheitskommissar zur Beerdigung Erzbergers
fuhr, sagte der letztere, die Mörder seien sicherlich nicht in die Schweiz
entflohen, sondern säßen bei Herrn von Killinger in München. So war
es auch. Aber als der badische Staatsanwalt in München ankam, natür-
lich nach vorheriger amtlicher Anmeldung, waren diese gerade vor zwei
Stunden vorher entflohen. Diese und andre ähnliche Dinge waren nicht
Politik der Bayern und des bayerischen Landtages, sondern bestimmter
Personen, vor allem des Münchener Polizeigewaltigen Herrn Pöhner,
der ja auch wie ein Monarch sich durch öffentlichen Maueranschlag verab-
schiedet hat: er könne unter den neuen Verhältnissen die Aufrechterhal-
tung der Ordnung nicht mehr verbürgen. In Bayern hat sich der Födera-
lismus von den offenen und versteckten Gegenrevolutionären getrennt und
sich begnügt mit der Abänderung der Adresse, an welche dieNotverordnung
des Reiches gerichtet ist, und mit dem Verzicht des Reiches auf unmittel-
bare Eingrifse. Sofern in dem letzteren unzweifelhaft ein Rückzug des
unitarischen Geistes der Reichsverfassung liegt, mag man dabei über die
Möglichkeit einer deutschen Reichs- und Staatsbildung überhaupt sich
seine ernsten Gedanken machen. Davon vielleicht ein anderes Mal. Aber
die bayerische Regierung des Herrn von Lerchenfeld, eines sehr gewandten
und klugen Diplomaten von den angenehmen Amgangsformen der süd-
deutschen Diplomatie, wird sicherlich stets nur dem Föderalismus und der
christlich-bayerischen Politik, aber nie der Gegenrevolution dienen. Auch
der inzwischen ernannte Nachfolger Pöhners ist ein sehr klnger, ruhiger
und verständiger Mann, der volles Vertrauen verdient. Auch der Wunsch,
von Bayern aus aus den Sozialismus im Reich zu drücken, der wohl
die Politik des Dr. Heim war und neben der deutschnationalen Strömung
selbständig herlief, scheint vorerst vertagt. So ist nach dieser Seite hin
sür einige Zeit wieder fester Zusammenhalt geschaffen.

Andererseits ist bei dieser Gelegenheit das deutsche Faszistentum, bei
uns tzakenkreuzer genannt, aufgedeckt worden. Es deckte sich und seine
Organisationen hinter dem bayerischen Schild, ist aber an sich eine völlig

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