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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1921)
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Avenarius, Ferdinand: Zu Raabes Neunzigstem
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Schumann, Wolfgang: Ludwig Thoma
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0028

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war ein keusches Werben um sein Volk, weun sich der heimliche Werber

das auch nicht eingestand. Als Glied seiues Volkes fühlte er sich außerhalb

einer kleineu Gemeinde einsam. Nicht etwa nach großen Auflagen verlangte
er, doch nach dem Zwiespiel seiner Seele mit der großen des Volkes, das
aber nahm ihn als Unterhalter, wohl gar als Komiker, wo er mit ihm,
herzher sprechen und seherisch schauen wollte. Nun hat die von ihm vor-
geahnte böse Zeit uns viel tausend neue Schüdderumpe vollgeladen, aber das
wenigstens ist wahr: die Deutschen haben begonnen, Raabe lesen zu lernen.

Bei den Massen mag sein „posthumer Erfolg" vielleicht ein Erfolg
aus Mißverständnis.sein. Die einen haben gehört, er sei „deutsch", und
so machen sie sich vor, Raabe sei ein „Nationaler" nach heutigem Sprach-

gebrauch gewesen; das war er gewiß nicht. Andre snchen in ihm den tzu-

moristen, und das heißt ihnen: einen, der lnstig macht, so schöpfen sie bei
ihm mit der flachen Hand auf der gekräuselten Oberfläche nach Schanm. Die
dritten haben gehört, bei Raabe sei Ruhe, die Zeit ist ja heute gar so
erschreckend laut, so kriechen sie mit müden Ohren in seinen Gängen her-
um, und ja, es glückt ihnen: von dem heimlichen und unheimlichen Brausen
hinter allen Wänden dort hören sie nunmehr nichts. Raabe läßt sich nicht
rubrizieren. Er läßt sich zum mindesten als Ganzes nicht einmal kritisieren,
weil seine eigentlichen Werte außerhalb dessen liegen, was der kritische Ver-
stand erfassen und durchlenchten kann. Nnlogische Schlüsse, Nnwahrscheinlich-
keiten, Willkürlichkeiten — kaum ein Werk Raabes, in dem sie fehlten; manche
Stelle Geschriebenes bei ihm scheint in solcher Beziehung fast „unbegreiflich".
Und diese Weitschweifigkeit obendrein! Aber der Eindruck von Weitschweifig-
keit kommt einfach daher, daß wir, wir Leser, heut allesamt hasten. Ver-
weilen wir einmal bei ciner Raabeschen „Weitschweifigkeit", indem wir
statt „diagonal zu lesen" die Muße zum gemächlichen Nachbilden aller
Vorstellungen in uns aufbringen, so lebt bald alles Raabesche und lebt be-
wegt und lebt gefüllt. Ich habe früher als für mich besonders bezeichnend
für Raabe das Beisammen von Sinnigkeit und Leidenschaft
genannt. Das Wort ,,G emü t" ist gar so abgegriffen, versüßlicht und miß-
braucht, nimmt man es ernst, so führt es aber auch auf die Sache. Sentimen-
talität dentet gerade auf das Gegenteil davon. Gemütskraft hat, wer im Füh-
len so stark ist, daß er seine Seele von den Dingen der Welt nicht ihrer-
seits schmieren und kutschieren läßt, daß er vielmehr mit seinen fühlenden
Kräfken die Welt da draußen für seine Seele einspannt. Erst, wer Raabe
als Dichter des deutschen Gemütes in diesem Sinne recht erfaßt hat, kann
ihm ungestört und unabgelenkt in den Bereich seiner rufenden Tiefen solgen.
Er wird dort immer wieder Reichtümer und Größen, vor allem: er wird
dort immer wieder Leben finden, das dem Dunkeln lichtwärts entqnillt.
Wer Raabe einmal in sich hat, dem ist er eine schenkende Liebe, die ihm treu
bleibt. A

Ludwig Thoma 1-

homas letztes gewichtigeres Buch war zugleich sein persönlichstes: die
Lebenserinnerungen. Ein Buch, voll von Allerechtestem wie wenige.
^^Der Sohn einer Förstersfamilie, in engem Kreis von Verwandten
und von Berufsgenossen des Vaters erwachsen, weitab von jener Literatur
und Politik, Wirtschaft und Bewegnng aller Art, welche die Kennzeichen
unserer Zeit sind. Vön allen „öffentlichen Angelegenheiten" nur der
Dynastie, dem Monarchismus durch seine ganze Nmwelt und Lrziehnng
 
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