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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1922)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Ueber Erneuerung und Erlösung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0251

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Lleber Erneuerung und Erlösung

^^n weiter Ferne vom öffentlichen Leben, mag dies nun Politik oder Wirt--
^Aschaft, Vergnügung oder Interessenwahrung sein, erleben Tausende von
^IErwachsenen und Wachen dieser Zeit eine Sehnsucht, die seltsam stark
nnd dringlich sie hinführt zu Gedanken, zu Veranstaltungen, zu Gemeiu-
schaften, zu Stimmungen, Erwägungen, Gebeten, Lebensformen, welche vor
wenigen Iahren noch den meisten fremd, gleichgültig, unverständlich waren.
Die äußeren äirsachen solch inneren Geschehens — denn sreilich sinden!
wir in „äußeren" Rrsachen die Bedingungen dieser Sehnsucht — sind
leicht aufgezählt. Ihr gemeinsamer Name lautet: Not. Allerdings steht im
Buche Not unserer Zeit nicht nur Las Verzeichnis derer, die arm geworden
sind, ein Liebes verloren haben, an Krankheit oder tzunger und Frost leiden.
Zu alledem kommt hinzu, was kein einfaches Wort ausdrückt, keine flüchtige
Prüsung bestätigt, keine Statistik verzeichnet. Keines einzelnen Menschen
Dasein ruht allein in ihm selber. Nnsichtbar und von Millionen nie ge--
wußt, Halten und tragen uns alle die Tausende von Fäden, welche uns mit
Menschen und Welt so oder so verbinden. In dicht hevölkerten Bezirken
erwachsen, sind wir, die wir heute zwauzig, vierzig, sechzig, vchtzig Lebens--
jahre durchmessen haben, allesamt verwoben, tief und eng verwoben ge-
wesen in hundert und aberhundert Beziehungen; Beziehungen zu Freun-
den, zu Geliebten, zu Familien, zu Vereinen, Beschäftigungen, Ortschaften,
Landschaften, zu kleinen und großen Gemeinschaften, verwoben in Beziehuw-
gen zu Theater, Musik, zur Kunst, zur Wissenschaft, in geistige Beziehungen
zu einer geltenden Ehrgesinnung, zu einer Staatsform oder Dynastie, zu ge--
sellschaftlich-sozialen, moralischen, geschäftlichrn Werthaltungen, zu Nrteilen
und Vorurteilen, zu einem Weltbild endlich, das lückenhaft und blaß gewesen
sein mag, aber doch unser und unangesochten war. Der war Kaufmann: ihm>
„galt" die Regel des erlernten Geschästsbetriebes, an die er „sich hielt", um
vor sich und seinem Kreis bestehen zu können; ihn stützte der Wohlstand einer
aufstrebenden Nation und in ihrem regen Getriebe erhielt er sich mit einem
Maß von Anstrengung, das seiner Natur angemessen schien; ihn umgaben
Menschen ähnlicher Ansichten und ähnlichen Lebenswillens. Nun ist jene
Regel zerbrochen; sie innezuhalten, würde Mißerfolg bedeuten; was ihn
an Volkswirtschaft umgibt, ist dem Gealterten fremd und unheimlich, erfor-
dert zehnfache Anstrengung und lohnt sie nur kraft anderer Praktiken als
ehedem; die Angehörigen seines §treises haben sich, selber unter dem Zwang
der Anpassung, in Wesen und Verhalten, selbst in Gesinnung und Mei-
nung, gewandelt — fremd ist die veränderte Welt seinem Sinn geworden.
Iener war Offizier. Zwischen Ehrliebe, welche Ehrung eintrug, dynastischer
Treuc, welche mannigfach belohnt ward, militärischer Gesinnung und ein-
fachem Pflichtgefühl, feststehender täglicher Praxis im Freien, zwischen wohl-
geordneter Abstufung und Abwechselung der Gefühle des Befehlhabers
und des Befehlempfängers, in der Runde der Kameraden von ständig glei-
chen Vergnügnngen und Anschauungen umgeben, verbrachte er sein gesichert
Iahr. Nnd nun? Niemand als ein paar Versprengte, die in düsterer Schwer-
mut alten Tagen eine nutzlose Treue halten, ehrt sein besonderes Ehrgefühl,
seine Gesinnung wird öffentlich verfemt; sein Pflichtgefühl taugt nicht für die
neuen Pflichten, wenn er deren überhaupt in geschlossenem Raume auszu-
übeu hat, im freien Wind gemeinen Lebens mangelt ihm die Orientierung
über Wert und Rang der Mitmenschen, nnd was an Vergnügungen und
 
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