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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1921)
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Liebscher, Artur: Zu Humperdincks Tode
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0111

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Zrr Humperdincks Tode

^»^-ngelbert Humperdinck war keiner von denen, um deren Kunst sich im
R^Streite die Köpfe erhitzen, keine musikalische Führernatur, kein
^»^Neuerer. Und doch hat er dem deutschen Volke etwas Neues ge-
schenkt: eine volkstümliche Märchenoper. Auf den Spuren dazu waren
schon andere vor ihm, aber allen fehlte etwas. Die einen glaubten,
daß nach Wagners Vorbild der pathetische Stil der einzige auf der Bühne
mögliche sei, die andern meinten, der Wert einer Bühnendichtung mit
Stoffen aus der Nnwirklichkeit liege im Symbol, wieder anderen fehlte der
Humor oder die Gabe, volkstümliche Melodien zu erfinden. Da wurde zu
Weihnachten 1893 in Weimar Hänsel und Gretel aufgeführt, und was
noch keinem der vielen Wagnernachahmer gelungen war, glückte Humper-
dinck bei seinem ersten Schritt auf die Bühne. Zum ersten Male ein wirk-
licher, durchschlagender Bühnenerfolg für einen Wagnerianer! Freilich ist
Humperdincks erste Oper auch seine beste geblieben. Nicht, daß er sich in
ihr schon ausgeschrieben gehabt hätte. Mindestens diePartitur der „Königs-
kinder" steht an Klangschönheit und meisterlich polyphon behandelter, dabei
echt volkstümlicher Ausdrucksweise der von „Hänsel und Gretel" gewitz
nicht nach. Aber die Opernfrage ist immer in erster Linie eine Textfrage,
und einen Text wie zu seiner ersten Oper hat Humperdinck leider nicht
wieder unter die Hände bekommen. Dort hatte eine Frau einen Märchen-
stoff so dramatisiert, wie es einer Frau am natürlichsten liegt: naiv, schlicht
und unberührt von der unglückseligen Vorstellung, daß ein Märchen an
Tiefe gewinne, wenn es symbolisch ausgedeutet und ausgebeutet wird. Viel-
leicht war dieses Opernbuch, das ihm seine Schwester zur Vertonung gab,
gar nicht zufällig, sondern aus einer inneren Notwendigkeit heraus so gut,
gerade weil sie es ohne jede literarische Absicht für ihre eigenen Kinder
verfaßt hatte, nicht anders und von keinem anderen Ziele geleitet als von
dem, ihren Kindern das Märchen dramatisch nahezubringen. Nnd auch bei
Humperdinck scheint die Herabstimmung des Wagnerschen Orchesters vom
Hochpathetischen auf das Naive ganz absichtslos geschehen zu sein, denn die
allgemeine Annahme der komponierenden Wagnernachfolger ging damals
noch durchaus dahin, daß das musikalische Heil auf dem Wege zu suchen
sei, der in der von Wagner eingeschlagenen Richtung geradlinig über das
Wagnersche Kunstwerk hinausführt. Ob nun bewußt oder unbewußt: auf
jeden Fall führte Humperdinck den praktischen Beweis für die Möglichkeit,
daß auch unter Benützung der Wagnerschen Mittel ein volkstümlicher Stoff
wirklich volkstümlich zu gestalten war. Hier liegt die musikgeschichtliche Be°
deutung Humperdincks. Denn von jetzt ab wurden die mystischen Erlösungs-
dramen mit ihren indischen und nordischen Tite^ln seltener, und die Ton-
setzer wendeten sich zu einem guten Teile dem Stoffgebiet des deutschen
Märchens zu. Freilich HLngt den meisten'zunächst noch ein Rest von der
alten Liebe zum Symbol an. Symbolisierende MLrchen geben aber immer
freiwillig ihr Bestes auf, die Naivität. So kam es, daß auch die musikalisch
kaum hinter Hänsel und Gretel zurückstehenden „Königskinder" eine un-
erfüllte Hoffnung blieben. Vielleicht hätte uns Humperdinck die deutsche
Märchenoper schenken können, in demselben Sinne etwa, in dem Lortzing
mit bescheideneren Mitteln seiner Zeit die deutsche Volksoper gab. Daß
es nicht dazu kam, mag man bedauern. Aber man soll darüber nicht ver-
gessen, daß der nun Verstorbene wenigstens eine Märchenoper gegeben

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