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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1922)
DOI Artikel:
Bonus, Arthur: Der erste Brudermord: eine "Ehrenrettung" Kains
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0393

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inühen um Klarheit kritisiere, vermeiden sie eine Widerlegung und erzählen
mir statt dessen, wie man Steiner lesen müsse, um seiue Tiefen zu erfassen.
Sie sind im Besitz der Wahrheit, denn — er hat's gesagt! Wer zweifelt,
wer kritisiert, hat »nicht verstanden" und muß sich Steiner erst „erarbei--
ten". Das ist der Ton dieser Sekte, die ich vollkommen achte, mit der ich
jedoch nicht gesonnen bin, auf so unfruchtbare Art Zeit zu vergeuden. An-
widerlegt und unbelehrt, muß ich — zu meinem eigenen Bedauern —
die Kernpunkte meines Aufsatzes aufrechterhalten. W. Schumann

Der erste Brudermord

Eine „Ehrenrettung" Kains

^^as Lrscheinen der ersten drei Gesänge des „Messias" im Iahre (7^8
^--F^in den „Bremer Beiträgen" wirkte wie eine erste Offenbarung noch
immer unerstickter Kräste im Volksleben, das sonst nur noch lehrreiche
Kenntnisse und nützliche moralische Weisheiten zu kennen schien. Diese
drei Gesänge in den „Bremer Beiträgen" waren ein Wahrzeichen, an
dem sich die Iugend des Volkes erkannte. Während vielleicht ein damaliger
Spengler in der Literatur eben jener Zeit den bereits längst eingetretenen
Untergang der Kultur verkündigt und die Begeisterung der Iugend als
Provinzialidealismus abgetan hätte.

Unter dem, was beim Messias stofflich am meisten überraschte und
erschütterte, war neben der Zeichnung des reuigen Lngels Abbadonna die
„Ehrenrettung" des Iudas Ischarioth. Iudas als der, welcher sich ein-
bildet — durch Lhrgeiz und Gewinnsucht freilich angestachelt —, Iesus
den höchsten Dienst zu erweisen dadurch, daß er ihn mit seinem Verrat
zwingt, seine göttliche Macht endlich in Herrlichkeit zu offenbaren.

limfühlungen und Amwertungen pflegen ihren literarischen Antritts-
besuch in sogenannten „Rettungen" auszuführen. Manchmal drücken diese
Ehrenrettungen den Inhalt der Umfühlung aus. Wie wenn die Renais--
sance die alten Heiden oder die Sturm-- und Drangzeit den Shakespeare,
die Romantik das Mittelalter „retteten". Manchmal sind sie nur Ausdruck
der neuerrungenen Fähigkeit zu Eigenverständnis, wie hier die Neu-
aufsassung des Iudas bei Klopstock.

Eine fast noch gewagtere Rettung hat am ersten Menschenmörder
Kain die moderne Literarkritik des Alten Testamentes im offenen Lichte
der Wissenschaft vollzogen. And hier gibt die Rettung wieder einen
inhaltlichen Ausdruck der vorgegangenen Amfühlung, wie ähnlich und
noch deutlicher die gleichlausenden Rettungen Sauls oder Ahabs. Man
hat die Figuren der hebräischen Sage und Geschichte aus dem frommen
Aberguß herausgefischt, den die alten pharisäischen Rabbinen um die
Aberlieferung ihres Volkes breiten mußten, um sie mit ihrem moralistisch-
kirchlich geschwächten Magen noch aufnehmen zu können. Ieder, der
für eine solche Befreiung der althebräischen Mythen- und MLrchenwelt,
Heldensage, doch auch Volksgeschichte Verständnis hat, sei auf das große
Bibelwerk hingewiesen: „Die Schriften des Alten Testaments, in Aus-
wahl (es fehlt nicht viel!) neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt
von Gunkel, Greßmann u. a.", Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht,
seit (909. Das Werk legt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Erforschung
der Literatur und Religion Israels in gemeinverständlicher Form und

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