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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 3 (Dezemberheft 1921)
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Troeltsch, Ernst: Die neue Katastrophe und die Stellung des Bürgertums zur Republik: Berliner Brief
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0202

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ein gefahrlrcher Weg. Lrnigung der Lohnpolitik der Arbeiter und der
kapttalistischen Energie der Wirtschaftsführer würde einem freien, geistig
lebendigen und unabhängigen Bürgertum nicht förderlich sein. Das Bür-
gertum hat diese neue Gefahr kaum sehen wollen oder in ihr geradezu
seine Hofsnung auf Rettuug erblickt. Es könnte zwischen Lohnsozialismus
und Unternehmerkapitalismus aber vielleicht erdrückt werden. Nun, es hat
es dann selbst nicht anders gewollt. Aber was werden die Feinde dazu sagen?

Diese haben vorerst die Reparationskommission nach Deutschland ge°
schickt. Nnd diese wird vor allem die Staatsausgaben prüfen und dieser
letztgenannten Erscheinung ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Das wird dann
vermutlich der Anfang der offenen Fremdherrschaft über ein heillos un--
einiges Volk sein. Wie unsicher in alledem der Reichszusammenhalt ist,
zeigen die neuen bayrischen Nachrichten über die Beerdigung des Königs
und die Proklamation des Kronprinzen Rupprecht.

Berlin, 9- November lAN- Troeltsch

Bom tzeute fürs Morgen

Bücher zur religiösen Krists

Bei Diederichs kamen zwei Schriften
heraus, die von ganz verschiedenen
Seiten die religiöse Bewegung der Ge-
genwart beleuchten. Die eine von Mila
Radakovic schildert „Die reli-
giösen Strömungen der G e-
genwart" und gibt wertvolle soziolo-
gische Zusammenhänge, vor allem auch
sehr klareBegrlffsbestimmungen desSo-
zialismus und Kommunismus, welche
beiden in ihrer materialistischen und
in ihrer religiösen Erschcinungsform
nebeneinandcr gestellt werden. Ls wird
gezeigt, wie aus der materialistischen
Denkanschauung heraus ihr Gcgensatz
erwachsen müßte, wie die Frage nach
der Möglichkeit der Wissenschaft ganz
allmählich zur Frage nach der Mög-
lichkcit der Religion wurde, und wie
wir heute auf dem Weg über die pcr-
sönliche Religion zurücksuchen zur Ge-
meinschaftsreligion. Nietzsche nnd Lol-
stoj sind Vorstufen. Die Kirchen waren
Durchgangsstationen, die heute durch
ihre Verknüpfung mit Geschichte und
Dogma an der vollen Entfaltung ihrer
geistigen Macht vcrhindert sind. Da-
mit, daß die Frage der Religion zu
ciner Frage der Theologie herunter-
gedrückt wurde, ist ihr Schicksal ent-
schieden. Die freien Religionsgemein-
den geben bestenfalls Religion dcrer,
die keine brauchen. Einzig der Ge°
meinschaftsdrang der Zeit führt hier

zur Theosophie, dort zu einem rcin
geistigen, mit dem der Straße in keinem
Punkte verwandten Kommunismus,
bei dem der Imperativ der Pflicht
treibende Kraft ist. Erwartet wird eine
Umschöpfuug der Welt auf Grund dcs
wach gewordenen Weltgewissens, das
Gut und Böse als zusammengehörig
erkannt hat und auf der Erkenntnis
des alten Iakob Böhme fußte: „In
dem Vöscn bin ich böse, in dem Guten
bin ich gut"; dies Bibelwort bcdeute,
daß beides die Kraft Gottes darstcllt.
So kann Mila Radakovic schließlich
sagen, daß der Kampf, in dem wir
stchen, nicht das Ringen zweier feind-
licher Gewalten sei, sondern, das Ringen
des göttlichen Seins mit den durch sein
Dasein gesetzten Möglichkeitcn. „Gottes
Strafe ist nichts andcres als das unaus-
weichlichc Gesetz der Einheit, daß sich
alles, was sich dagegen wendet, in sich
sclbst aufreibt". So gelangen wir zu-
letzt zu einer Religion der Identität (der
einzigen überhaupt Möglichen Religion)
zur selben Zeit, in der zahlreichePhilo-
sophien derIdentität ausgcdachtwurden.

„Die religiöse Entscheidung"
heißt eine Schrist von Friedrich
Gogarten, die die Lebenskraft des
Protestantismus untersucht und in einer
Anzahl von leider etwas schwer zu
lesenden Vriefen einen scharfen Tren-
nungsstrich zwischen Mystik und Re-
ligion zieht. Immer wieder wird aus-
 
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