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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
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Troeltsch, Ernst: Auf dem Weg zur neuen Mitte: Berliner Brief
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Schumann, Wolfgang: Neuere skandinavische Erzählungen, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0120

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Beamten müssen sich ändern, die sich für unpolitisch halten, wenn sie keine
Unterschiede zwischen den bürgerlichen Parteien machen und nur „Sozial-
und andere Demokraten« verwerfen. Das wird lange dauern, aber das
Problem selbst ist brennend. Eine Revolution, die das bisherige Beamten-
tum sorgfältig konserviert, ist ein Unikum in der Welt, und ich habe gerade
um deswillen unsere Revolution nicht selten etwas zynisch als Talmi-
revolution gutmütiger Schwachköpfe bezeichnen hören, die es einem leicht
mache, sie wieder abzuschaffen. Diese Gutmütigkeit mag allerdings von
einem gewissen Standpunkt ans ein Fehler gewesen sein, war andrerseits
durch linentbehrlichkeit des Beamtentums zu sehr realistisch begründet.
Aber sie hat uns auch Leiden und Irrungen erspart und gereicht dem
deutschen Volke nicht znr Unehre. Seit dem Kapp-Putsch ist das freilich
anders geworden, aber gerade diese Anderung hat uns zu bösen inneren
Reibungen geführt.

Äberall Zank und Streit und die neue Mitte kaum noch sichtbarl Ich
sprach neulich einen altpreußischen Iunker, der meinte, der Parteistreit sei
eigentlich ganz gleichgültig; es gebe in der ganzen Welt heute nur zwei
Parteien, die der Wahrheit und der Lüge,- und zwar drinnen und drarchen;
bei uns wollen die einen die Tatsache und die Gründe unserer Niederlage
nicht sehen und praktisch anerkennen, und nur wenige versuchen beides illu-
sionslos zu verstehen und daraus die Folgerungen zu ziehen; draußen
decken die einen hartnäckig ihr Gewissen bei der Räuberei und Schinderei
mit dem Dogma von der deutschen Alleinschuld, damit sie nicht an sich
selber irre zu werden brauchen, und nur wenige haben Mut und Kraft, die
Allerweltsschuld und den Zwang der modernen Verhältnisse zu sehen und
daraus praktische Folgen zu ziehen. Man kann an den Menschen in grim-
migem Lkel völlig verzweifeln. Nnd da fordert Professor Radbrnch für die
neue nationale nnd soziale Schule eine Religion „inbrünstiger Diesseits-
freude"! Das ist schwer zu machen. Auch das Gehaben der Sozialdemo-
kraten selber, so sehr ich Verstand und Tüchtigkeit des deutschen Arbeiters in
den Dingen, die er versteht, aufrichtig schätze, und vor allem das seiner Li°
teraten undFührer, ist wenig geeignet, inbrünstige Diesseitsfreude zu wecken.

Bei der Korrektur ist die Nachricht von der Entscheidung des Völker-
bundes da. Noch ist nicht alles klar. Aber das ist wieder eine Katastrophe,
die das bitzchen erscheinende Licht mit brutaler Hand zusammenschlägt.
Die Finsternis ist groß. Wie viel von dem in diesem Brief Besprochenen
lätzt sich unter diesen Nmständen noch durchführen? And wie tief wird die
Mark stürzen?

Berlin, 7. Oktober 1921. Ernst Troeltsch

Neuere skandinavische Erzählungen

^k^>ehrere Gründe veranlassen nns, die Augen immer wieder auf das
^ I skandinavische Schrifttum zu lenken. Zuweilen zieht das Ausleuch-
^^^ten des Genies unsern Blick nach Norden. Dann ist es freilich
eben das „Genie", nicht das „Nordische",was uns zu tiefst bewegt. Im übri-
gen aber scheint es mir, als könnten wirin Deutschland getrost gewisse grund-
sätzliche Unterscheidungen machen. Will jemand das Wesen einer National-
Literatur, vielleicht sogar durch sie hindurch die seelische und die soziale
Struktur ihres Landes kennen lernen — und diese Absicht ist durchaus sinn-
voll und durchführbar —, dann muß er freilich von möglichst vielen ihrer
Erzeugnisse Kenntnis nehmen. Das wäre kein Mitzbrauch der Dichtung,

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