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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

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Heft 2 (Novemberheft 1921)
DOI article:
Schumann, Wolfgang: Neuere skandinavische Erzählungen, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0121

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aber es wäre auch keme ästhetische, keine „reine" Linstellung. Iedenfalls
sprechen wir hente davon nicht. Wir wollen dem Werthaft-Besonderen, in
seiner Art Eigensten, uns selber nicht Gegebenen der Nordischen nachgehen.
Die skandinavischen Länder liegen abseits vom europäisch-amerikanischen
mechanisierenden Hauptstrom, obgleich er sie, vor allem ihre Hauptstädte,
auch bespült. Was sie nun an Literatur aus dem Geist der mechanisierten,
vergeschäftlichten, industrialisierten, überhetzten Epoche hervorbrachten, davon
brauchen wir im Grunde nichtKenntnis zu nehmen. Wir haben selber reichlich
davonl Dagegen wirkt und lebt in ihnen noch ein ganz anderer Geist, auf
dessen Hervorbringungen wir sehr wohl achten sollten, denn sie sind von
eigner Kraft und innerlichster Wirkung. Ls ist schwer, diesen Geist zu
kennzeichnen. Rathenau hat in ähnlichem Zusammenhang einmal von „einer
seltsamen, beweglichen, dinglichen und kühnen Auffassung" gesprochen, „die
auf den Kern der Sachs geht", von einer „ruhigen, treu zuversichtlichen und
vornehm freien Art", einer „zur Nntertreibung neigenden Sprache", „des
Rühmens baren Freude an Kraft und Mut", von „leiser Verspottung über-
klugen Wesens", von „Heimatliebe, Geistigkeit und unmaterieller Frömmig-
keit". Das alles steckt mit in dem Skandinavengeist, den ich meine, und
manches mehr: zu alledem eine tiefe Verbundenheit mit der Natur, eine
Achtung vor der Äberlieferung, welche nicht Nnfreiheit ist, eine innere
Ruhe und damit ein Lebenstempo, wie wir sie nicht kennen, eine Einfach-
heit der Anschauungen, welche bei großer Tiefe hohe Aberlegenheit bedentet,
aber in mittlerer Lage auch etwas Primitives hat und vor den unentrinn-
barea Verwickelungen unserer Lebensproblematik versagt. Aus alledem
erscheint das skandinavische Schrifttum mitbestimmt — und wer an
Werke Selma Lagerlöss, Verner von Heidenstams, Knut Hamsuns, Iakob
Knudsens denkt, wird viele Züge vor Augen haben, die an diese Kenn-
zeichnungen erinnern. Ie stärker sie sich ausprägen, umso „bedeutender" in
jedem Sinne scheinen mir die skandinavischen Werke, ganz allgemein und
auch im Besonderen für uns.

Nicht als ob ich damit die Losungen „Zurück zur Natur!" oder „Zurück
zum Germanischen!" auf literarischem Felde ausgeben wollte. Dieser Geist
ist nicht unser Geist; es ist fraglich, ob er es je gewesen; es ist gewiß, daß
zwingende Notwendigkeiten uns vorwärts treiben, daß wir nicht im
Sinne solcher gutgemeinter Losungen zurück können, daß unsere Pro-
blematik und damit unsere heißeste und fruchtbarste Leidenschaft und Schaf-
fenskraft anders orientiert ist. Aber in den Schöpfungen jenes Geistes
liegen eben unvergängliche und besondere Gehalte, die auch wir zu fassen
vermögen und die neben den unsern selbständig dastehen und uns im
Innersten bereichern können.

Irgendwie ist nun das allermeiste der skandinavischen Werke von solchem
Geiste durchhaucht. Auch die Bücher geringen Grades tönen immer noch
davon. Das kann uns natürlich nicht hindern, ihre Schwächen vorurteilfrei
zu erkennen. Geradeunsere diesjährigeÄbersicht wird das zu beweisen haben.
(?^a liegt aus Dänemark vor mir ein Drama Martin Andersen-
-^Nexös, „Die Leute auf Dangaard". Es ist gewiß kein Zufall. daß
ihm die starke Spannung, die Geschehniswucht des Dramas fast abgeht, daß
sich hier Trauriges und Ernstes in durchsichtigem und lebenswahrem Zu-
sammenhang, gesteigert zu furchtbarem Ausgang, abspielt, und daß doch
dem für dramatischen „Nerv" Empfindlichen das Ganze beinahe uninteres-
sant bleibt. Ein völlig anderes Tempo des Lebens, eine weitaus stärkere
 
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