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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1921)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Vom Niedergang des Gefühls auf der Bühne
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Schicksalswende der Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0179

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Verona vor Tag wieder verlassen muß. Kaum hat er sich auö Iuliens
Armen gerissen — Tag, schein herein, und, Leben, flieh htnaus! — tritt
Iuliens Mutter ein und teilt ihr mit, sie werde nächsten Donnerstag den
Grafen Paris heiraten. Auch dieser, für Iulien so ungeheuerliche Moment
erregt viele unsrer jungsn Damen recht wenig. Den Kuß des einen auf
den Lippen, seine Umarmung im Gemüte, soll sie sich auf die Liebkosung
eines anderen bereiten. Wo ist die Keuschheit, die hier nicht in Schreie
ausbricht! Man braucht nur Shakespeare nachzulesen, die Verzweiflung
füllt zwei ganze Szenen. Und was stellt sich im Unterricht (seit 1918) dar?
Ein bißchen Verwunderung darüber, daß sie gar so bald sein soll, diese
zweite Heirat; bereits vor Ablauf einer Woche! Für diese erkrankten Seelen
ist der Verkehr mit zwei Männern keine Unmöglichkeit schlechthin, wie für
die tragisch veranlagte Iulia.

Das Gesühl liegt darnieder. Reizungen machen sich an seiner Stelle
breit. Die wenigen großen Leidenschaften, mit denen die Künstler jahr-
tausendelang ausgekommen sind und die immer wieder, in jeder neuen
Gestaltung zu den Quellsn menschlichen Gut-- und Böse-Tuns zurückführten:
Liebe und Haß, Eifersucht und Neid, Rechtserfülltheit und Ehrgeiz, Gottes-
sicherheit und Empörertum, haben sich in charakterlosem Flitterkram ver-
zettelt, der uns weismachen will, er könne auch zur Tragik führen und
die Welt müsse sich mit dieser „Verfeinerung" von den alten gewaltigen
Bewegern der Menschen- und Völkergeschicke losmachen wie etwa von den
geographischen Anschauungen des Ptolemäus. Der Künstler aber ist vom
Wirtschaftler gerade Larin unterschieden, daß seine Wahrheiten niemals
nur dreißig Iahre dauern. Er knüpft seinen Faden immer im Zentrum
des menschlichen Nniversums an, in das die Gnade ihn hineinschauen läßt,
und spult das Leben seines Werkes davon ab. Nnd ist der Faden nicht mit
Blut getränkt, so trocknet er im Handumdrehen aus.

Natürlich geht diese kranke Schauspielkunst, die uns jetzt erwartet.
ihren dürren Pfad nicht allein. In der Dichtung gibt's ganz ähnliche Er-
scheinungen: man sucht Tragik und Komik mit dem Intellekt zu packen —
vergebens. Ob eine Kur zur Aufbesserung der Blutmischung nnd zur Ent-
lastung gewisser Gehirnteile möglich ist, mögen die Arzte entscheiden. Ich
fürchte, unser Volk wird die fünf mageren Iahre noch nach einem halben
Iahrhundert spüren,- wie im Leben so auf der Bühne, die vom Leben ge-
speist wird. Ferdinand Gregori

Schicksalswende der Kunst?

»«^eitungen und Zeitschriften bieten in dcn letzten Iahren ein merkwür-
^^diges Bild: die Frage nach der Zukunst unserer Kunst kehrt dauernd
(^in allen Tonarten wieder. Dazwischen hinein „analysiert" einer, zum
tausendsten Male, den Expressionismus, „beweist" er seine Notwendigkeit
oder sein nahes Ende und sucht er ihn in der geistigen „Gesamtstruktur«
der Zeit zu „verankern". Zeiten mit ursprünglichem Kunstschaffen, Zeiten,
in denen es so etwas wie „Stil" gab, also eine allen Kunstwerken gemein-
same Grundweise, hatten derlei Aberlegungen nicht nötig. Das erkennen
auch manche dieser Aufsatzschreiber, und dann stellen sie flugs die For-
derung: schafft eine nationals Kunst „auf völkischer" oder „auf religiöser
Basis«! „Not tut" . . . usw.! „Mehr denn je brauchen wir" usw. usw.
Kunst oder Nnkunst aber gehen ihres Weges weiter, kein Stil entsteht,

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