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Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1922)
DOI Artikel:
Spranger, Eduard: Eros
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https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0323

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Eros

enn heut wiederum, wie zu Platos Tagen, in einem hochgestimmten
^/»^Kreise jugendlicher Männer die Aufforderung erginge, der Reihe

nach den Gott Eros zu preisen, wie ein jeder ihn verstünde, so
würden noch buntere und seltsamere Meinungen zutage kommen, als beim
Gastmahl des Agathon. Was eine ältere Generation darüber gefühlt und
gedacht hat, steht in Werken der Literatur vor uns. Es sind Zeugnisse
darunter, die so aussehen, als habe man in dieser Zsit unter Kunst ver--
standen, seinen Seelenschlamm von sich zu geben. Befremdender ist, daß auch
in der Iugendbewegung, die in ihrem Kern Erweckung und Wiedergeburt
bedeutet, in Gefühl, Gedanke und Handlung über das Erotische eine
Verwirrung herrscht, die nicht sein könnte, wenn im Seelengrunde alles
gerade gewachsen wäre.

Darüber zu reden, und nun gar zu schreiben, ist schwer. Sokrates hielt
es für gut, nicht in seinem eigenen Namen davon zu sprechen, sondern die
Seherin Diotima vorzuschicken. Für uns liegt es einfacher. Man darf heut
daran erinnern, daß jener, der den Eros am tiefsten erlebt, darüber auch
das Tiefste gesagt hat. Rnser Wahrsager ist Plato; in seinem Namen sei
alles folgende behauptet, und es bedarf dazu nur eines kurzen, erläutern-
den Zusatzes: Iedem steht frei, als Eros zu benennen, was er in seiner
Seele ihm verwandt glaubt. Es gibt also genau so viele Meinungen
über den Lros, als es Seelen gibt, die sich darüber aussprechen. Das
ist einmal das Schicksal aller Psychologie, daß man jedem glauben muß,
was er in sich zu finden behauptet. Darüber läßt sich keine Polemik
führen; auch meine Zeilen haben keine polemische Absicht und werden sich
mit niemandem auseinandersetzen. Die Entscheidung suche jeder in Aus-
einandersetzung mit sich selbst. Hier aber ist die Rede davon, was der
Eros sein könnte, wenn er irgendwo in seiner reinsten und höchsten Gestalt
erschiene. Vielleicht wandelt er in dieser Gestalt gar nicht über die Erde.
Vielleicht findet auch mancher, wenn er mit diesem Leitbilde in sich selbst
hineinleuchtet, daß ihm aus der eigenen Tiefe etwas antwortet. Vielleicht
findet er, daß auch er den Eros so gebären würde, wenn einmal die letzte
Wahrheit des eigenen Seelengrundes ans Licht käme.

Februarheft ,922 (XXXV, s)

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